Der Autist Wie unterscheidet sich dieses Buch von den vorhergehenden? Es ist ohne eine vorangegangene Kurzfassung geschrieben worden. Und das bedeutet? Ich habe an keinen besonderen Plot gedacht, den ich abwickeln wollte, sondern den Ausgangspunkt in einer Figur genommen, oder in einem „Charakter“, auf Neudänisch, auf den zu entwickeln ich mich konzentrieren wollte. Das ist dann dieser Autist, Bertil? Genau so ist es, ja. Und weshalb das? Ich habe schon lange ein Buch über dieses Thema schreiben wollen, hatte aber Angst, dass ich es nicht könnte. Dass die Leute mich kritisieren würden, weil ich nicht genug über den klinischen Hintergrund wüsste. Nun hat mir eine Sozialarbeiterin mit Spezialgebiet Autismus geholfen. Du hast sicher auch zu dem Thema recherchiert? Ja, das habe ich, klar. Und außerdem konnte ich alles einbringen, was ich bereits wusste. Ich möchte nur auf meine Referenzliste in dem Buch hinweisen, die sowohl Literatur, Filme als auch Dokumentationen umfasst. Darin sind auch einige Geschichten enthalten, die großen Eindruck auf mich gemacht haben und an die ich mich immer noch mit Freude, Wehmut und Mitgefühl erinnere. Also Gefühle, die auszudrücken Autisten schwerfallen? Ja, oder die zu verstehen oder abzulesen sie sich schwertun, wenn sie von anderen ausgedrückt werden. Aber es ist eine spannende Herausforderung gewesen. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, Bertil in seiner etwas linkischen Unbeholfenheit glaubwürdig zu gestalten. Was lässt dich glauben, dass du dazu in der Lage gewesen bist? Das Gefühl, dass es nicht schwer war, mich in seine Lage zu versetzen. Wie kannst du das wissen, wenn du selbst kein Autist bist? Weil ich auf andere Beschreibungen von Autisten und auf Autisten, die in Fernsehsendungen über dieses Thema mitwirkt haben, gestoßen bin. Aber am meisten, weil ich auf vielerlei Arten spüre, dass ich selbst wie ein Autist gelebt habe. Was soll das heißen? Viele der Dinge, die Autisten beschäftigen oder mit denen sie Probleme haben, können auch anderen Menschen widerfahren, doch liegt bei diesen eine andere Ausgangssituation zugrunde und es passiert in weniger belastender Weise. Und ich bin der Meinung, dass das bei mir der Fall gewesen ist. Vielleicht hat das Thema mich deshalb so tief berührt und das Gefühl hat mit voranschreitendem Schreibprozess noch weiter zugenommen. Ich habe mich an Geschichten erinnert, die ich über geistig behinderte Menschen erfahren hatte, und die aufgrund genau des Ergreifenden und Tragischen dabei diese erzählerische Perspektive besaßen, die über die Jahre so großen Eindruck auf mich gemacht hat. Meine erste unvergessliche Begegnung mit dieser Art von Geschöpfen war die Kurzgeschichte „Blumen für Algernon“. Was für Umstände können das sein? Verschlossenheit, Selbstbezogenheit, Schüchternheit, Unsicherheit in Gesellschaft mit anderen Menschen zum Beispiel. Alles das hat zu meinem Leben gehört, nicht aus pathologischen Gründen, sondern weil es auch durch soziale Umstände hervorgerufen werden kann, was sicherlich für mich gegolten hat. Inwieweit auch die Gene daran beteiligt sind, darüber kann ich mir kein Urteil erlauben. Aber es lässt sich nicht ausschließen, denn Mutter war ziemlich introvertiert, melancholisch und menschenscheu und konnte uns Kindern in keiner Weise eine Stütze dabei sein, auf positive Weise den Blick nach außen zu richten – eher im Gegenteil. Du hast früher einmal die nicht stattgefundenen Geburtstagsfeste erwähnt? Ja, unter anderem. Es ist eine Amputation der Möglichkeiten die Kinder haben, sich nach außengewandte soziale Kontakte aufzubauen, wenn sie in die Schule kommen und man beginnt, ihnen abzuschlagen, Kindergeburtstage abzuhalten, und ihnen auch verbietet, zu den Geburtstagen der Schulkameraden zu gehen, wenn sie eingeladen werden. Die Teilnahme an den Geburtstagen der anderen hätte Mutter sozial nicht belastet, sondern es war nicht machbar gewesen, weil man sich dann hätte „revanchieren“ müssen. Diesen Ausdruck hat Mutter gezielt benutzt, und dass er gerade für etwas gebraucht wurde, das hart und eine Belastung war, war sehr genau ihre Art und Weise, auf soziale Verpflichtungen zu sehen. Geselligkeit war nichts, worauf sie sich freute. Ja, es ist schwer, das akzeptieren zu müssen, wenn man daran zurückdenkt. Gibt es andere persönliche Umstände, die an Autismus erinnern? Da ist das übertriebene Inanspruchgenommensein, Objekte in laufenden Sammlungen zu verzeichnen und zu archivieren, und das Sammeln überhaupt. Autisten sind auch sehr von Terminen und Terminplanung eingenommen, wovon ich in meinem Roman nur in geringem Umfang Gebrauch mache. Aber diesen Antrieb habe ich selbst mit ihnen geteilt, um meine Zeit vernünftig zu verwenden und immer irgendetwas zu tun zu haben, damit ich nicht das Gefühl hatte, Zeit zu verschwenden. Ich setze jedoch nicht auf den konkreten Zeitpunkt. Mit Sammeln beschäftigen sich auch viele sogenannte normale Menschen. Ja, und kluge Köpfe sagen, dass es etwas mit der Kompensation einer fehlenden menschlichen Bindung zu einem sensiblen Zeitpunkt während des Heranwachsens zu tun haben könnte, und dieser Deutung kann ich mich als selbst erlebt auch anschließen. Aber bei einem Autisten gründet es auf einem größeren Problemkomplex? Ja, da ist es ein Ausdruck für den Versuch, sich ein Bild der Umwelt mit weniger bedrohlichen Elementen zu organisieren, von denen es wirklich viele gibt, wenn ein Autist auf seine Umgebung trifft. Was also eine Frage der Wahrnehmung ist, allgemein gesprochen? Ja, ich gehe in einem Kapitel des Buches darauf ein. Es handelt sich dabei um einen sehr breiten Fächer von Störungen in der Kommunikation, die alle Sinne betreffen. Die Gewichtung der Schwere dieser Störungen ist bestimmend dafür, wie groß das Handicap ist, um das es geht. Welche Sinne es speziell sind, die bei dem einzelnen Autisten beeinträchtigt sind, kann in Art und Umfang variieren. Normalerweise wird das Asperger‑Syndrom als eine weniger schwere Form des Autismus angesehen. Aber dein Autist funktioniert doch ansonsten recht gut. Das tut er, und diese Beispiele gibt es glücklicherweise auch. Mit ihnen können Außenstehende sich am leichtesten identifizieren. Deshalb habe ich ihn als Beispiel gewählt. Ich wollte ja die Balance treffen zwischen Wehmut und Tragödie, Humor und Einleben, die im Gesamteindruck am stärksten auf mich eingewirkt haben, wenn ich diesen schiefen Existenzen in den Medien begegnet bin. Bertil soll uns also nicht leidtun? Keinesfalls. Überhaupt ist das eine Verhaltensweise, von der sich alle Gehandicapten gemeinsam distanzieren. Aber das Problem mit den auf den ersten Blick nicht sichtbaren Handicaps ist, dass die Menschen geneigt sind, ihren Umfang zu unterschätzen. Und wenn den Leuten dann die Tiefe und die zugrunde liegende Schwere aufgehen, fühlen sie sich unangenehm berührt und reagieren darauf, indem sie zu dem Betroffenen auf Distanz gehen. Deshalb neidet Bertil einem Schulkameraden seinen Klumpfuß, der ein sichtbares Handicap darstellt. Aber berührt das einen Autisten, wenn er, wie man sagt, den Reaktionen anderer gegenüber unempfindlich ist? Für manche ist es vielleicht so, aber das macht das Problem eigentlich nicht kleiner. Es geht also nicht um Überempfindlichkeit oder Abgestumpftheit? Nein, es auf diese Art auszudrücken, würde verkehrt sein, denn es vereinfacht das Problem auf unangemessene Weise. Woran hast du in deiner Schilderung besondere Freude? An dem übertriebenen Grad an Umständlichkeit zu dem Bertil greift, speziell in stressigen Situationen. Das verleiht gleichzeitig einen befreienden Anflug von Humor, der entwaffnend wirkt, Bertil aber nicht auf negative Art und Weise ausliefert – und so soll es sein. Eine literarische Beschreibung wird doch in Bezug zu einer vorausgesetzten Wirklichkeit immer eine stilmäßig eigene Wendung nehmen. Aber es geht darum, die Handlung glaubwürdig zu gestalten, damit sie innerhalb ihres eigenen konkreten dramatischen Zusammenhangs überzeugend wirkt. Ich selbst bin der Meinung, dass Bertil eine meiner besten Hauptfiguren ist. War es nicht verlockend, Bertils Klassifizierungskontrolle der Dramaturgie als Teil beizugeben? In anderen Medienprodukten, die Autismus zum Thema hatten, hat man sich doch eines extremen Umgangs mit Zahlen bedient? Nein, diese Perspektive habe ich schnell abgeschrieben. Zum einen ist es nur ein ganz kleiner Teil der Autisten, der in dieser Beziehung große Fähigkeiten besitzt, und zum anderen würde eine größere spektakuläre Fokussierung zu viel Aufmerksamkeit und Gewicht der Geschichte auf sich ziehen. Ich halte Bertils Kampf darum, die Gefühle, die andere Menschen ohne Mühe decodieren können, wie Verliebtheit, zu verstehen und mit ihnen umzugehen, ganz bewusst auf engem Raum. Du lässt ihn sich für Medienphänomene begeistern, wie den sehr farbigen mit dem Schatten und dann den mehr kulturellen mit der Diva. Ich wollte zeigen, dass Bertil weitere Facetten besitzt und in Wirklichkeit eine ziemlich komplexe Persönlichkeit ist, trotz der wahrnehmungsmäßigen Probleme, mit denen er sich herumzuschlagen hat. Und gerade Kommunikation ist doch etwas, das mich mein eigenes Leben hindurch auf verschiedenen Ebenen der Seriosität beschäftigt hat. Somit ist das für mich von einer professionellen Perspektive aus betrachtet auch spannend. Weshalb gerade „The Shadow“? In einem ausgezeichneten Film über einen jungen Autisten geht es um ein Computerspiel, in das die Hauptperson wie in eine Spiegelung seines Zustandes flüchtet, und um den Versuch, diesen Zustand zu beherrschen. Doch zu Anfang der 80er Jahre sind Computerspiele noch nicht erfunden, deshalb ließ ich Bertil mit einer anderen Identifikationsfigur aus der Medienwelt spielen, die nicht so konventionell ist. Außerdem mag ich Mike Kalutas Zeichenstil in der Comicversion von „The Shadow“. Bertils Wohngemeinschaft erinnert mich ein wenig an Jack Nicholsons zusammengelaufenen Haufen Geisteskranker aus „Einer flog über das Kuckucksnest“. In diesem Fall bekenne ich mich schuldig. In Milos Formans Film gibt es auch die Balance zwischen Institutionalisierung und persönlicher Freiheit nebst dem Bedürfnis des Individuums, ernst genommen zu werden, unabhängig seines Grades der Funktionalität. Falls ich es geschafft habe, etwas in diesem Sinne vorzulegen, unter Wahrung eines vergleichbaren Grades an Humor und Mitmenschlichkeit, wäre ich äußerst zufrieden. Die Beschreibung der fehlenden Fähigkeiten gefühlsmäßig zu kommunizieren, gehört wohl auch zu den Dingen, in die du dich leicht hineinversetzen kannst? So ist es, denn ich habe selbst viel Zeit darauf verwendet, selbstständig zu werden und mich meiner Umgebung gegenüber differenziert zu verhalten. Obwohl ich vielleicht kein Autist gewesen bin, hatte ich mit den gleichen Dingen unglaubliche Mühe, mit denen auch Bertil nicht zurechtkommt. Und ja, meine Cousinen waren nett genug, mich an meine sozialen Unzulänglichkeiten zu erinnern, indem sie mir zu meinem 30. Geburtstag einen Pfefferstreuer schenkten. Der war aus Porzellan, und ich habe ihn in Stücke gehauen. Glücklicherweise ist es keine meterhohe Skulptur gewesen, die sie mir im Garten aufgebaut haben. Wieso musste Bertil Regaleinräumer in der Bibliothek sein? Einesteils, weil ich eine unglaublich ergreifende und berührende Dokumentation über einen Bibliotheksangestellten gesehen habe, der auch die Grundlage für meine eigene Figur bildet. Und andernteils, weil ich einen Regaleinräumer kenne, von dem ich auch denke, dass er wegen vergleichbarer Umstände eine Anstellung mit Lohnkostenzuschuss hat. Ist es Zufall, dass du dich damit zurückhältst, zu enthüllen, wann die Erzählung spielt? Das ist wohl Zufall, aber das erste Kapitel seiner Kindheitserinnerungen wird sicher vielen verraten, dass wir uns irgendwo in den Sechzigern befinden. Und da er später auf der Jetztzeitebene auf seinen dreißigsten Geburtstag im Jahr zuvor hinweist, wissen wir dann, dass wir irgendwo in den Achtzigern sind. Kenner des Commodore 64 können eine Jahreszahl festsetzen. Deshalb gibt es keine Computer, kein Internet, keine Mobiltelefone oder Datenaufzeichnungen in der Buchausgabe der Bibliothek? Genau. Ich musste mich mit Bibliothekaren darüber beraten, wie die Ausleihe damals funktionierte – und sie hatten es fast schon vergessen. Aber es ging dabei um eine Fotoregistrierung, die am Schalter stattfand, bei der der Leserausweis gemeinsam mit der Seite mit den Daten des Buches abfotografiert wurde. Und bei der Fernleihe wurde eine Lochkarte angefertigt, die in die „Ablage“ kam und dann, wenn das Buch wieder zurück ins System kehrte, verschrottet wurde. Das System haben nicht alle Bibliotheken gleichzeitig eingeführt, aber man war jedenfalls davon abgegangen, hinten in die Bücher zu stempeln. Und keine CDs oder DVDs? Nein, Filme gab es auf VHS‑Kassette, sofern sie überhaupt zu finden waren, und Musik kam meistens von Audiokassette. Online‑Computerspiele waren immer noch Sterne in den Augen der zukünftigen Computerspielnerds, denen gerade der Commodore 64 präsentiert worden war. Gibt es noch andere Gründe, in der Zeit zurückzugehen? Das Wissen über psychische Leiden war damals geringer, und es gab mehr Missverständnisse und Vorurteile. Außerdem konnte ich ein Zeitbild benutzen, mit dem ich mich auskannte und das in meiner Erinnerung zum Leben zu erwecken, mir Freude bereitet hat. Ist das Bild von „Hawaii“ auch plausibel? Nicht nur plausibel, es ist völlig zutreffend. Ich war zu Beginn der Achtziger nach Kopenhagen umgezogen und wollte natürlich auch herausfinden, worum es bei Liveshows ging. Was die sexuelle Befreiung betraf, hatte ich die Goldenen Siebziger verpasst, aber mir gelang es dort im Sog der Stadt, ein wenig der Stimmung mitzubekommen. Es bleibt nicht viel von ekstatischer Sexualität in der nüchternen Beschreibung übrig, die beinahe von Bertil selbst stammen könnte. Nein, eben, und deshalb finde ich auch, dass sie zu den heitereren Beiträgen des Buches gehört. Aber was die Einrichtung zu dieser Zeit angeht, ist die Location stimmig, so viel kann ich garantieren. Und die Probleme der Gehandicapten mit Sexualität sind auch eine Frage, über die ich viel nachgedacht habe. Du kehrst zu dem Problem der sexuellen Freiheit in Zusammenhang mit den geistig Behinderten in dem Kapitel zurück, in dem Alvin sich eine Freundin sucht. Das ist ganz bewusst. Gerade die Sexualität war doch etwas, worüber sich die Ämter viele Sorgen machten, als es zur verbreiteten Praxis wurde, psychisch Behinderten die Erlaubnis zu geben, in geschütztem Wohnraum außerhalb der Institutionen zu leben. Wenn diese Art der vormundschaftlichen Sorge glaubwürdig wirken soll, sind wir wahrscheinlich gezwungen, in der Zeit zurückzugehen, glücklicherweise. Dann ist Fredes Laden am Hauser Platz sicher auch authentisch? Das ist klar. Bestimmt war es mein Kollege Paul Arne Kring, der mich mit diesem Laden bekannt gemacht hat. Er ist an alten Hollywood Stars interessiert gewesen und ging oft vorbei, um dort Standfotos zu kaufen. Frede ist am besten für seine Freundschaft zu Asta Nielsen bekannt. Der Grund für die Wachskerzen liegt sicher darin, dass die Elektrizitätswerke irgendwann einmal den Strom abgestellt hatten. Hättest du da nicht lieber Asta Nielsen zu deiner Diva wählen sollen? Ihre archaischen Gefühlsäußerungen würden doch besser zu Bertils bescheidener Disposition gepasst haben? Ich muss zugeben, dass hier der persönliche Geschmack eine Rolle spielt. Ich wollte ganz einfach lieber ein falsches Interview mit Bodil Kjer kreieren. Und zu der Zeit, zu der das Buch spielt, hatte sie ihre Erinnerungen noch nicht geschrieben. Es gibt auch einige Kapitel aus Bertils Kindheit, die gewöhnlicher und normaler auf den Leser wirken. Ich fand, das wäre notwendig und natürlich. Es hätte zu künstlich gewirkt, überall in das Buch einen autistischen Blickwinkel reinzuzwängen. Teilweise wäre es ermüdend und teilweise zu einengend gewesen. Ich musste Bertil mit einer um ihn herum funktionierenden gesellschaftlichen Situation bekannt machen, in der es auch positive und anregende Beziehungen von Normalität gab. Es muss nicht alles Krise sein, dann würde das Ganze nur traurig und deprimierend werden. Aber in der Schule wird Bertil gemobbt. Das wird er, und das ist einer der Gründe dafür, dass ich in der Zeit zurückgegangen bin. Damals in den 60ern war Mobbing ziemlich verbreitet, auch wenn die Bezeichnung noch nicht erfunden war. Es wurde nur als Neckereien abgetan, mit denen man leben musste. Die Schulen ignorierten dieses Benehmen größtenteils. Jetzt würde es glücklicherweise sicherlich anders ablaufen. Autisten in Regelklassen zu unterrichten, kommt jetzt wieder in Mode. Ja, ich hörte in den Radionachrichten einen Beitrag über die Probleme der Volksschullehrer, frühere Sonderklassenschüler wie Autisten und Kinder mit ADHS in normale Klassen zu integrieren. In meiner Kindheit war die Bezeichnung ADHS auch noch nicht erfunden. Damals war diese Art Kinder bloß verhaltensauffällig, was ausgesprochen wurde mit einer deutlich herablassenden Einstellung, die den Kindern eine persönliche Schuld anheftete. Sehr tragisch. Wieso muss es um Emma so viel Mysteriöses geben? Weil sie auch Leichen im Keller hat. Und sie hat ihre eigenen Gründe, sich nicht in die Karten schauen zu lassen. Aus Respekt vor ihr dauert es lange, bis Bertil sich aufrappelt, ihr persönliche Fragen zu stellen. Und in dem Moment, wo das passiert, verschwindet sie. Warum muss sie verschwinden, dramaturgisch gesehen? Damit sie wiedergefunden werden kann. Durch die Suche nach ihr bringt Bertil die besonderen Fähigkeiten, die er mit seiner systematischen Beharrlichkeit hat, auf den neuesten Stand, aber jetzt hat er plötzlich auch einen sehr wichtigen Beweggrund für sein Verhalten. Bertil wird durch ein konkretes Handlungsmuster gezwungen, sich Emmas Bedeutung für ihn bewusst zu werden. Somit ist es eine Erkenntnisreise, auf der er entdeckt, was sie für ihn bedeutet, auch wenn es ihm lange Zeit schwerfällt, die Gefühle zu decodieren, die dabei im Spiel sind. Du scheinst eine Schwäche für Catherine Deneuve zu haben? Das geht auf das größte Filmerlebnis meiner Jugend zurück: Die Vorführung von „Die Regenschirme von Cherbourg“ im Festsaal der Domschule zu Viborg von einer 16‑mm‑Fassung mit 5 Spulenwechseln. Die Beschreibung ist absolut authentisch, was auch für viele der anderen Erinnerungen in den Kindheitskapiteln gilt. Wie die, Werbung von Markenartikeln zu sammeln? Nicht unbedingt Waschmittelanzeigen, aber die Schiebebilder mit Tankstellenlogos habe ich auch gesammelt, und eine Zeit lang Stockschilder. Ich hatte selbst auch Schlittschuhe und Rollschuhe, die man sich an die Schuhe geschnallt hat, und habe Sammlungen mit Dokumentarbeiträgen aus Illustrierten und Zeitungen angelegt. Jetzt liegt meine Sammlung von Dokumentarfilmen auf DVDs, und die ist auch recht umfangreich. Darin vertiefe ich mich, wenn ich ein neues Thema recherchieren muss, und das lässt sich an den Referenzlisten in meinen Büchern ablesen. Was ist mit der Sandbahn für das Radrennen? Die ist auch absolut authentisch. Ich und andere Kinder sind auf Rädern hinter dem Haus des Nachbarn im Garten, der eine Tankstelle war, Bahnrennen gefahren. Und an jedem Ende der Bahn, wo die Kurven waren, war ein Hang aufgegraben worden. Es war spannend und sehr schön. Also mit ein paar Kindern habe ich immerhin gespielt. Und das Aquarium? Das gab es auch. Irgendwann kaufte Vater ein riesengroßes Aquarium, in das richtig viele tropische Fische gesetzt wurden. Ich kann mich an die ganze Arbeit mit der Anschaffung und dem Einrichten des Aquariums erinnern, das zu Hause im Wohnzimmer stand. Das was das, was man heute Qualitätszeit nennt. Was ist mit den Sammelmappen? Unbedingt. Weitere Seiten in die Mappe einzufügen und dann die weiße Spindel wieder einzuschrauben, das habe ich viele Male gemacht. Irgendwann sah ich neue Mappen genau dieser Art drüben bei Jussi Olsen liegen. Ich habe mich darüber gewundert, dass er immer noch unbenutzte dieser Mappen mit dem gelblichen Papier besaß, auf denen auf dem Einband aus marmoriertem roten, grünen oder blauen Karton ganz unten in Golddruck das Wort „Udklip“ stand. Ich habe ihn dann danach gefragt. „Was meinst du mit immer noch? Ich habe sie gerade in der Buchhandlung gekauft.“ Also sind sie nach wie vor im selben Design im Handel gewesen. Es muss viele Leute geben, die diese Sammelmappen über Jahr und Tag benutzt haben, denn unsere haben wir vor über 50 Jahren gekauft. Du hättest vielleicht die Wohngemeinschaft der geistig Behinderten in der Arche ein wenig mehr entwickeln können? Darüber habe ich nachgedacht, aber dann hätte ich die Aufmerksamkeit zu sehr gestreut. Immerhin ist es ein Buch über Bertil, also ist das, was sich um ihn herum abspielt, einzupassen und es ist dem der Vorzug zu geben, damit der Fokus weiterhin auf ihn und seine Situation gerichtet bleibt. Der Spannungsbogen muss bewahrt und um die Hauptperson herum ausgebaut werden. Ich habe die Grenze also dort gezogen, indem ich die übrigen Mitglieder der Wohngemeinschaft enger mit einbezog. Du benutzt mehrmals den Ausdruck: „Darauf muss ich mit Ja antworten“? Das habe ich mir aus einem Film von Wikke und Rasmussen ausgeliehen. Ich habe mich fast totgelacht, als ich das gehört habe. So weit ich mich erinnere, ist es dort auf die gleiche Weise gebraucht worden, wie ich es auch verwendet habe. Als eine Art Agenda zur Abwehr, wenn man widerwillig etwas zugibt, was zu beantworten man sich am liebsten vom Hals halten will. Die anderen umständlichen Formulierungen des Buches tauchen auch meistens dann auf, wenn Bertil sich bedrängt fühlt und etwas darlegen soll, das ihm nicht liegt und das er deshalb auf übertrieben sorgfältige Art und Weise kommentiert. Was ist mit dem ausdrucksstarken Geschichtslehrer? Ihn gibt es auch. Er ist gleichzeitig unser Klassenlehrer gewesen, der immer noch im Skolevej in Overlund wohnt. Er ist über 80 Jahre alt, und ich habe ihn ein paar Mal besucht, als wir die Wohnung unserer Eltern ausgeräumt haben. Er hält sich gut und hat dieselbe bewährte leutselige Einstellung, die ich zu schätzen gelernt habe, als er als junger Lehrer an unsere Schule kam. Ein anderer unserer Lehrer ist gerade 75 geworden. Stell dir mal vor, dass einige der neuen, jungen, frisch ausgebildeten Lehrer, die wir damals bekamen, nur ungefähr zehn Jahre älter waren als wir Schüler! Du gibst einen Hinweis auf einen möglichen Buchtitel, „Die Katastrophe“, den Bertil gerne schreiben will. Ist das ein versteckter Hinweis? Genau das ist es. Mein nächstes Buch trägt diesen Titel. Es handelt vom Untergang der Zivilisation und ist eigentlich eine recht ergreifend Geschichte … |