Zweite Chance für Sasja
Interview mit Freddy Milton
Gefürht von Claes Reimerthi, Erik Overgaard und Anders Christian Sivebæk

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Wie viel Zeit verging nach Abschluss deines ersten Buches, bis du festgestellt hast, dass es keine Eintagsfliege bleiben würde?

Nur ein paar Monate. Aber ich bin ja auch ziemlich milieugeschädigt, weil ich meinen Arbeitsplatz mit Erfolgsautor Jussi Olsen teile, der mich jahrelang in aller Freundschaft mit der Bemerkung gepiesackt hat: „Na, wann schreibst du denn mal ein RICHTIGES Buch?“ „Momentchen mal“, hab ich dann gesagt, „du hast doch auch mit Comics angefangen …“ Irgendwie hat es mich dann auch überrascht, dass ich offenbar mehr als ein Buch schreiben kann. Doch wahrscheinlich wird der Grund dafür sein, dass ich insgesamt mehr Zeit habe, jetzt, wo die Kinder aus dem Haus sind und ich keine Auftragsarbeiten mehr erledigen muss. Ich habe immer nur ganz vereinzelt die Gelegenheit gehabt, länger hintereinander weg, ohne Unterbrechungen, arbeiten zu können. Und so sollte es am besten sein, wenn man sich einen größeren und komplizierteren Plot für einen Roman vornehmen will.

Ist „Zweite Chance für Sasja“ denn ein Buch, dass du schon im Kopf hattest, als du „Questland“ abgeschlossen hast?

Nein, zu der Zeit hatte ich praktisch eine andere Idee für das nächste Buch, aber dann lief mir „Zweite Chance für Sasja“ über den Weg. Es handelt auch von Leben und Tod, doch dieses Mal sind keine Avatare oder Fantasiegeschöpfe dabei.

Baut die Geschichte auf einer wahren Begebenheit auf? Die einleitende Bemerkung am Anfang des Buches könnte darauf hindeuten?

Nicht direkt, aber es gibt Berichte über Menschen, die einer ähnlichen Form des Transzendenten begegnet sind, wie wir es in meiner Geschichte erleben. Und an den Parallelen zur Teilnahme Dänemarks an der Kriegsführung im Mittleren Osten kommt man auch nicht vorbei, auch wenn ich ganz bewusst nicht möchte, dass meine Geschichte an einem konkreten Beispiel festgemacht wird.

Der Titel lässt aber schon den Gedanken aufkommen, dass es hauptsächlich ein Buch für Mädchen ist?

Das ist es sicher auch. Falls „Questland“ den Eindruck machen sollte, sich mehr an ein Jungspublikum zu wenden, weil der Blick auf die Geschichte durch eine männliche Identifikationsfigur erfolgt, dann ist das neue Buch in gleicher Weise sicherlich eher ein Buch für Mädchen, denn es ist ein Mädchen im Teenageralter, das im Zentrum steht und die Geschichte erzählt. Ja, eigentlich sind es eben zwei Mädchen.

Kann du so etwas überhaupt schreiben? Mädchen sind sicher auch sehr wählerisch, wenn es darum geht, womit sie ihre Zeit verbringen möchten? Glaubst du, sie kaufen dein Bild einer Teenagerwelt, die womöglich noch dazu in der Zukunft liegt?

Das hoffe ich doch wirklich. Ich habe mir nämlich Mühe gegeben. Ich habe in meiner Familie zwei Töchter beim Aufwachsen begleitet und eine dritte befindet sich gerade in der Vorpubertät. Also bin ich mit allem ein bisschen konfrontiert worden und ich weiß auch gut, wie Teenagermädchen sich heutzutage unterhalten und sich benehmen, was sie sich herausnehmen und wie streitbar und selbstbewusst sie sein können, besonders auch in dem Alter, das Matilda hat. Also der Ton, der in der Sprache liegt, ist glaubwürdig und selbst erlebt. Obendrein gibt es Situationen in dem Buch, die autobiografisch sind. Doch Matilda ist zugleich auch ein sehr nachdenkliches Mädchen.

Ich würde übrigens doch gerne erfahren wollen, wie alt Matilda ist?

Ich habe sie mir ungefähr als 16-Jährige vorgestellt. Das hat auch den Vorteil, dass es ein Alter ist, das auf Mädchen, die selbst jünger sind, anziehend wirkt, denn sie streben doch immer ein bisschen zu diesem Alter hin, das sie gerne selbst kennenlernen möchten. Und ich habe dafür gesorgt, dass es ein Stoff über Rollen und Romantik, Gefühle und Sentimentalität ist. Das ist keineswegs etwas, worauf ich es eigentlich angelegt habe, denn der Kern der Erzählung fokussiert ganz einfach auf Introvertiertheit und wie man sich selbst kennenlernt und das Leben erlebt. Aber Matilda steht am Spielfeldrand dieses sozialen Jugendlebens, denn sie wird wegen ihres Übergewichtes ins Abseits gestellt.

Weshalb hat sie so viel Übergewicht? Ziemlich viel sogar.

Ich habe viel Sympathie für Außenseiter. Sie sind meinem Herzen am nächsten und mit ihnen kann ich mich am besten identifizieren und deshalb fällt es mir leichter, sie zu beschreiben. Außerdem hat Matilda den Auftrieb, zu dem die Geschichte ihr verhilft, doch in äußerstem Maße nötig.

In deinen ersten Büchern finden sich Anteile von Fantasy und Science-Fiction. In diesem hier nicht direkt. Was für eine Art Buch ist es?

Wenn es einem Genre zugeordnet werden soll, dann muss es sicher unter der Rubrik „Melodram“ einsortiert werden. Ich habe es auf dem Buchvorsatz ein „Schicksalsdrama“ genannt, um das Vorherbestimmte des Handlungsverlaufs in Relation zu bringen. Wenn man versucht, tiefe Gefühle einzufangen, ist man gezwungen, einiges an Humor an den Nagel zu hängen. Es war kein Zufall, dass die alten Griechen erkannten, Dramatik in „Komödie“ und „Tragödie“ aufteilen zu müssen. Das Buch ist sicher eher ein Drama mit Elementen der Vorbestimmung. Jussi sagt, ich hätte den Zeitgeist eingefangen, und ein Filmproduzent ist der Meinung, es wäre eine gute Idee für einen Film, auch wenn es für ihn als Produzenten nicht direkt auf seinen Bolzplatz passt. Aber lass uns sehen, was passiert, wenn meine Titel auf englisch ins Netz gestellt werden, und auch von einem anderen als nur dem dänischen Publikum gelesen werden können.

Wie fühlt es sich an, seine altbekannte Erzählform zu verlassen und seine Kräfte auf einem neuen Gebiet auszuprobieren?

Ich mache ja immer noch Comics, aber ansonsten freut mich die andersartige und vermutlich größere Spannweite, die man bekommt, wenn man in die Buchstabenliteratur umzieht. Eigentlich könnte ich mich jetzt fragen, weshalb ich es nicht schon früher versucht habe. Wenn ich das Buch mit gewissen anderen meiner früheren Comicmanuskripte vergleiche, kann ich sehen, dass ich bereits versucht habe, mit Themen und in einer Form zu arbeiten, für die ich vielleicht mehr Akzeptanz gefunden hätte, würde ich sie als Schriftliteratur ausgearbeitet haben. Gewisse Blickwinkel in meinen früheren Alben sind ziemlich realistisch, und typischerweise sind es die ernsteren Themen, bei denen ich das Gefühl hatte, dass die Leute ihnen in Form eines Comics skeptischer gegenüberstehen. „Wer glaubt er eigentlich, der er ist?“ oder „Er glaubt doch bestimmt, er ist jemand …“, als Ausdruck dafür, dass die Erwartungen an Comics immer noch die sind, dass es sich dabei am besten um dümmliches Jagen nach billigen Effekten, und davon dann reichlich, handelt.

Ist das so?

Offenbar. Oder aber, es muss ein anderer Zeichner sein. Die Karte ist gespielt. Eine Ausdrucksform bekommt das Publikum, das sie durch den wiederholten Gebrauch des Mediums verdient. Und sie ist in diesem Falle viel zu lange eingleisig gefahren. Deshalb ist es schwer, die Dinge zu korrigieren und andere Nutzer anzuziehen. Früher hat es mich traurig und niedergeschlagen gemacht, dass das Niveau des Ehrgeizes, was den Inhalt anging, in erzählenden Comics so niedrig gewesen ist. Aber jetzt kann ich den ernsten Tönen zu der richtigen Form von Aufmerksamkeit verhelfen, denn in geschriebenen Büchern darf man das nämlich!

Mir sind hier und da Stellen aufgefallen, wo du Dinge aus deinem eigenen Leben verwendet hast – wie die Puzzles und das Haus, in dem du wohnst. Es ist recht interessant, diese Dinge wiederzuerkennen.

So sind Schriftsteller eben. Man bezieht aus seiner eigenen Sphäre die Dinge ein, die man unterwegs so gebrauchen kann. Aber sie werden in der Regel so gedreht, dass sie zu dem Ton in dem Teil des Buches passen, den man gerade schreibt. Wenn man gemeinsam verbrachte Zeit zweier Mädchen in einer etwas altmodischen Umgebung deutlich machen will, ist die Herstellung eines Puzzles nur recht.

Diese ganzen Sachen mit Fahrrädern und deren Reparatur, das, was Malik beherrscht, erinnert mich daran, die gleichen Dinge von meinem Vater gelernt zu haben. Von wem hast du es gelernt?

Von meinem Vater. Unter den alten Schmalfilmen, über die ich beim Aufräumen in meinem Elternhaus gestolpert bin, gibt es sogar einen mit einer Szene, in der mein Vater ein Fahrrad flickt.

Beim Lesen der Geschichte erfährt man, dass es einen zeitlichen Abstand zwischen den beiden Parallelhandlungen gibt. Geht es denn um einen Zukunftsroman?

Das kann man schon sagen, aber dazu ist es nur deshalb gekommen, weil der Plot es erforderlich gemacht hat. Und dann spiele ich auch mit der Unsicherheit, die aufgrund der Entwicklung, die die Welt nimmt, herrscht, und wozu ich dann meinen Vorschlag liefere. Aber das steht beim Lesen nicht in vorderster Linie. Dieses Buch wird in der englischen Version, in der ich den Bezug angepasst habe, tatsächlich logischer erscheinen.

Was für Wirkmittel sind zum Einsatz gekommen?

Ja, außer, dass es eine Geschichte ist, die sich entwickelt, geht es hier auch um eine Erzählung über ein Mysterium, über das wir erst nach und nach etwas erfahren. Und die Auflösung wird immer spannender, je mehr die Handlung sich entfaltet. Aus diesem Grund gibt es da Dinge, die ich hier nicht offenlegen kann. Aber ich bin überzeugt, dass es eine ganze Anzahl ist, was selbst der klügste Leser vorher nicht wird erraten können.

„Zweite Chance für Sasja“ hat mit deinen ersten Büchern allerdings gemeinsam, dass die Geschichte sich auf verschiedenen Ebenen abspielt …

Das stimmt. Es gibt da eine zusätzliche Traumebene, die sich in Matildas Bewusstsein drängt, und sie spürt, dazu Stellung nehmen zu müssen, weil diese Ebene mit der Zeit immer aufdringlicher wird. Somit wird es auch zu einer Detektivaufgabe, die darauf hinausläuft, herauszufinden, was mit ihr überhaupt vor sich geht und weshalb.

Ich verrate sicher nicht zu viel, wenn ich sage, dass der Roman sich an dieser Stelle um verschiedene Bewusstseinsebenen zu drehen scheint?

Nein, das ist okay. Und es hat mich immer schon beschäftigt, was Bewusstsein eigentlich ist und wie es sich manifestiert. Das Transzendentale knüpft dieses Mal also daran an, wie Unterbewusstsein sich zu erkennen gibt und auf das Leben der Menschen Einfluss nimmt. Es wird eine recht spirituelle Reise, aber ich entscheide mich dafür, diese Verhältnisse auf eine nüchterne und praktische Art und Weise zu handhaben. Dadurch tritt auch eine Spannung zwischen dem Erdverbundenen und dem Sphärischen zu Tage, was ebenfalls das Leben der einzelnen Menschen kennzeichnen kann. Diese Ebenen haben von Mensch zu Mensch unterschiedliches Gewicht, aber hierbei haben wir es nun mit einem Mädchen zu tun, das zu seiner eigenen Überraschung entdeckt, alternativen Phänomenen gegenüber offener zu sein, als es sich bislang bewusst gewesen ist. Damit wird es auch eine Reise ins Innere, bei der es auf Exkursion in sich selbst geht.

Das klingt ziemlich kryptisch. Denkst du, Mädchen interessieren sich für solche Sachen?

Ja, davon bin ich überzeugt. Manche auf jeden Fall. Die Teenagerjahre sind doch dadurch gekennzeichnet, dass man versucht, mehr und mehr über sich selbst herauszufinden. Deshalb glaube ich, dass dieser Betrachtungswinkel als sehr spannend und relevant erlebt werden wird, auch für Leser, denen das alles nicht so nahe geht wie Matilda, die eine sehr kritische Phase ihres Lebens durchläuft.

Woher kommen die Überlegungen einer doppelten Existenz?

Das liegt weit zurück. Ich habe die Verfilmung eines bekannten Berichtes über ein indisches Mädchen gesehen, das in eine Stadt kommt, in der es früher schon einmal gewesen war und in der es viele Details wiedererkennt, besonders das Haus, in dem es gewohnt hatte. Dort traf es seinen früheren Ehemann und konnte einige ganz private und intime Sachen beschreiben, von denen außer dem Mann nur die verstorbene Ehefrau Kenntnis hatte. Aber es gibt auch viele andere Berichte von Menschen, zumeist Frauen, auch hier in Europa, die sich plötzlich zu Örtlichkeiten hingezogen fühlen, die sich als ihnen aus einer früheren Daseinsform bekannt herausstellen. Ich habe auch eine Sendung über ein englisches Kind gesehen, das ein Vorleben in Irland gehabt hatte.

Was ist also mit dieser Sasja?

Sie gehört einer anderen Kultur an und hat einen völlig anderen Hintergrund von Zeit und Ort. Goristan ist meine Bezeichnung für ein Entwicklungsland des Mittleren Ostens mit einer streng autoritativen Tradition und in der Situation eines jahrzehntelangen Bürgerkrieges. Sasjas Möglichkeiten sind sehr viel begrenzter als Matildas. Wäre die Situation in ihrem Land normal, wäre es nahezu vorherbestimmt, welches Schicksal ihr Leben nimmt. Aber sie ist ein sehr lebensfrohes und entschlossenes Mädchen, das selbst versucht, die Grenzen der Möglichkeiten, die es hat, zu verrücken. Dieses entspricht auf breiterer Ebene den Konflikten, die sich in der es umgebenden Gesellschaft finden lassen. Ich bin von einer solchen Parallelität zwischen Träumen, den Hoffnungen und dem Ehrgeiz des Einzelnen und schließlich dem Streben der Gemeinschaft nach etwas Entsprechendem sehr angetan. Diese Welt des Mittleren Ostens bekommt darüber hinaus ein Gleichartigsein, wenn sie mit den Verhältnissen in der westlichen Welt in Kontrast gesetzt wird.

Wie alt ist Sasja?

Ich denke, sie ist etwas jünger als Matilda, aber dieser Eindruck kann auch dadurch entstehen, dass Mädchen in diesem Teil der Welt zurückhaltender erscheinen als hier bei uns, oder wie das Verhalten von Mädchen früher verstanden wurde.

Wieso vergeht so viel Zeit, bis wir herausfinden, was wirklich los ist?

Alle spannenden Bücher haben doch eine Aufbauphase, in der man die Personen und deren Hintergrund vorgestellt bekommt. Man muss wissen, mit wem man es zu tun hat, bevor man es mit dem Teil aufnehmen kann, der erzählt, was mit ihnen passieren wird, wenn die Kacke am Dampfen ist. In Wirklichkeit ist dieser erste der wichtigste Teil des Buches. Denn erst, wenn richtig Schwung in die Handlung kommt, ist sie es, die ihren Platz fordert und den Hergang bestimmt. Und an diese Stelle habe ich zwei Personen aus unterschiedlichen Kulturen gesetzt, die ich ordentlich in Zeit und Raum platzieren muss, bevor es losgeht. Aber man muss auch aufpassen, das man diesen Teil der Geschichte nicht überlädt. Was man erzählt muss nur gerade so genügen, um die Personen in unserem Bewusstsein zu etablieren. Als Geschichtenerzähler muss man praktisch daran denken, auf dem Teppich zu bleiben und sich auf die Punkte zu konzentrieren, zu denen man später gerne zurückkehren will, damit man bei der Auflösung der Geschichte nicht den Drive und den Schwung verliert. Aber diese parallele Handlung muss für den Übergang zwischen den beiden Kapiteln, in denen das Drama eine neue Wendung nimmt, passend gemacht werden.

Matilda erhält viele der für sie notwendigen Hintergrundinformationen durch Immigranten aus dieser Region des Mittleren Ostens. Fällt diese Beschreibung nicht auffallend neutral aus? Sollte man denn nicht erwarten, dass sie subjektiver vorgebracht wird, wenn sie von Menschen aus diesem Gebiet gegeben wird?

So ließe es sich sicherlich auch vorstellen. Aber ich wage zu behaupten, dass viele Immigranten, die seit zwanzig Jahren im Westen leben, praktisch in der Lage sind, ganz nüchtern auf die Verhältnisse in ihrem alten Heimatland zu sehen und sie auf undramatische Weise zu kommentieren. Mit meiner Entscheidung habe ich als Priorität gesetzt, ein Bild von abgeklärten und realitätsbezogenen Einwanderern zu zeigen, die es, wie ich weiß, auch gibt. Wenn man immer nur bitter und hasserfüllt ist, wird man sich am Ende sein ganzes weiteres Leben ruiniert haben.

Mir fällt auf, dass der Ton in dem Buch in großen Teilen zurückgenommen ist. Besonders in den Abschnitten in Goristan, in denen es wirklich um Sasjas Schicksal geht. Ließe sich in der Beschreibung der Teile, die sich in einem kriegsverwüsteten Land abspielen, nicht mehr Verzweiflung vorstellen?

Darüber habe ich nachgedacht, und die Gewichtung, die ich am Ende gesetzt habe, hat sich für mich logisch angefühlt. Ich denke, dass Menschen, die in einem Land leben, das sich seit Jahrzehnten in einem Kriegszustand befindet, eine tiefe Resignation in sich angelegt haben, was Menschenschicksale und den Preis von Leben angeht. In dieser unserer heutigen Welt würden solche Ereignisse natürlich als sehr katastrophal erlebt werden und Anlass zu großen, gefühlsmäßigen Armbewegungen geben. Allein schon, wenn ein dänischer Zeitsoldat getötet wird, erregt das hier bei uns besondere Aufmerksamkeit. Doch im Mittleren Osten beherrscht man seine Gefühlsäußerungen. Auch die Tatsache, dass manche Menschen bereit sind, Selbstmordattentate zu unternehmen, erzählt uns etwas über eine Lebenseinstellung, in der der Rolle und der Bedeutung des einzelnen Individuums kein Ehrenplatz eingeräumt wird, wie es in unserer Kultur der Fall ist. Jedenfalls erlebe ich es so. Und als Erzähler hoffe ich, mehr Gehör durch eine zurückgenommene Verzweiflung zu erlangen, als durch eine gefühlsmäßig aufgedrehte Beschreibung. Doch bestimmte Leser würden sicher eine grandiose emotionale Darbietung vorziehen. Wenn es darauf ankommt, ist das wahrscheinlich eine Frage des Temperaments. Ich hätte mich auch damit verteidigen können, dass alles, was Sasja angeht, mittels Flashbacks in Träumen zu Matilda und damit zu uns kommt. Und in diesem Zusammenhang braucht Sasja sich gefühlsmäßig nicht so stark auszudrücken, denn Matilda ist aufgrund des Konzeptuellen voll und ganz in der Lage, die Situation zu erfassen, ohne dass sie in einem schwülstigen Stil beschrieben zu werden braucht. Es soll hauptsächlich als interne Kommunikation zwischen denen, mit denen wir als Leser zufälligerweise verbunden sind, gesehen werden. Aber was weiß ich schon? Ich komme doch aus Jütland, wo das ganze Leben an viele Orten in einem zurückgenommenen Zustand gelebt und kommentiert wird …

Ist Miss Winterbottom durch jemand bestimmten inspiriert?

Nein. Und irgendwann hatte ich mir auch überlegt, ihr Schicksal offen zu lassen. Jetzt bleibt stattdessen das von Onkel Mustafa ungeklärt. Es muss immer ein paar lose Enden geben, sonst erscheint alles reichlich zurechtgelegt. Das Gleiche gilt für das weitere Schicksal von Nadias Vater.

Terroraktionen gegen die Delegation Goristans – wären die früher oder später möglich?

Das wäre es definitiv, leider. Das Thema ist zu der Zeit, als ich an dem Manuskript gearbeitet habe, sogar aktueller geworden.

Es gibt auch eine kurze Nebenhandlung mit Esben, die am Ende schnell abgeschlossen wird?

Ich war der Meinung, von der ganzen Problematik bezüglich Einwanderung zu diesem zusätzlichen Schnörkel inspiriert worden zu sein, der in der Schlussphase zu einem Bild einer Gesellschaft beiträgt, in der man voller Sehnsucht auf ein bisschen Fortschritt wartet. Und dann hatte auch eine reale Geschichte wie die in dem Buch, einen tiefen Eindruck auf mich gemacht, als ich davon in der Presse gelesen habe. Es hat leider mehrere solcher Fälle wie den von Esben gegeben, und das sind zutiefst tragische Ereignisse.

In dem Buch setzt du eine Person ein, die Martin heißt … Er hat in seinem Leben eine Rolle gehabt, die der des Martin in „Questland“ entspricht … Ist es dieselbe Person?

Jetzt möchte ich gerne ein bisschen frech sein und Ja sagen. Der Name jedenfalls ist nicht zufällig. Mir gefällt der Gedanke, dass es dieselbe Person ist. Ich bin überhaupt in der Vergangenheit meiner Autorenschaft mehrmals an Orte und zu Figuren zurückgekehrt, die ich bereits früher einmal verwendet hatte, um in meinem Universum ein wenig Kontinuität und Breite zu schaffen. Das Gleiche habe ich mir hierbei vorgestellt, als ich meiner Person einen Namen geben musste. Das sollte dich auch nicht daran hindern, dich dafür zu entscheiden, ihn als dieselbe Person anzusehen.

Worin haben deine Nachforschungen bestanden – wenn es um „unsere“ Welt geht – Matildas Schule, Klassenkameraden, Mobbing usw. Und was ist mit Goristan, den „Rechtleitenden“, die Flucht etc.

Ich habe, außer den Dingen, die man erfährt, wenn man die Nachrichten verfolgt, keine konkreten Nachforschungen über soziale oder politische Verhältnisse angestellt. Aber ich habe auch viele Dokumentarfilme über die Zustände gesehen, die das Buch berührt. Im ersten Teil des Buches gibt es eine Notwendigkeit zur Darstellung einiger Verhältnisse, den Mittleren Osten betreffend, die auf Fakten basieren. Und aufgrund der Zeitverwerfung muss das notwendigerweise in Berichtform geschehen. Die Umstände mit den illegalen Parabolantennen, den Videofilmen, der Frau, die mit der Wahlurne in den Bergen herumfährt, und die Provokation durch die erste Radtour der Mädchen habe ich in einem Dokumentarfilm beschrieben gefunden. Was die Welt der Jugendlichen hier im Westen angeht, so habe ich also vier Kinder im Alter von 13 bis 26 Jahren, und ich greife natürlich auf das Wissen zurück, dass ich durch ihr Aufwachsen erlangt habe. Aber ich habe die Verhältnisse untersucht, die von dem psychologischen Zustand handeln, in welchem Matilda sich befindet. Und der ist gar nicht mal so selten, wenn man in die Tiefe geht und konkrete Einzelfälle untersucht.

Hast du bei den Heimatländern von Sasja und Matilda eigentlich an bestimmte Länder gedacht? Am Anfang sagst du auch, dass Sasja die Namen von Personen und Orten anonymisiert hat, das hat doch sicher auch noch einen anderen Grund?

Den hat es natürlich. Ich wollte ganz einfach nicht an etwas Bestimmtem festgemacht werden, das in Beziehung zu Einstellungen zu aktuellen Ereignissen steht. Es gibt Worte, von deren Gebrauch ich ganz bewusst absehe wie zum Beispiel „Fundamentalismus“ und „Terroristen“, weil es der Sprachgebrauch der Mächtigen ist. Widerständler würden hingegen Wörter wie „Selbstbestimmung“ und „Partisanen“ verwenden. Auch „Politik“, „Regime“ und „Demokratie“ benutze ich absichtlich sehr sparsam, und „Islam“ und „Religion“ gar nicht. Als westlicher Autor kann man leicht der Parteilichkeit beschuldigt werden, deshalb ist meine Darlegung bewusst nüchtern und neutral. Aber so enttäusche ich vielleicht die Leser, die sich in der Beschreibung mehr Subjektivität und Einfühlungsvermögen wünschen. Man kann nicht alle zufriedenstellen. Wenn ich es mir dann als notwendige Konsequenz des Konzeptes gestatte, die Entwicklung fortzuschreiben, würde ich Gefahr laufen, Vorwürfen ausgesetzt zu werden, die in die Richtung gehen, dass ich mir dieses und jenes also nicht würde erlauben dürfen. Es gibt Menschen und Gruppierungen, die ein großes Interesse an den Zuständen im Mittleren Osten haben. Und die Absicht meines Buches könnte Gefahr laufen, von ganz unnötigen Verweisen auf konkrete Verhältnisse und Strategien überschattet zu werden. Es soll Matildas problematisches Doppelleben sein, das im Fokus steht.

Trotzdem schließt das Buch in einem optimistischen Ton …

Dafür habe ich natürlich gesorgt. Inzwischen kennt das Publikum mich ja als einen freundlichen und netten Autor, der wohl auch über die Stränge schlagen kann, aber trotz allem ein optimistischer Mensch ist. Bei all dem Unglück, zu dem es im Laufe der Geschichte kommt, würde es herzlos sein, wenn sie ganz unten im Kohlenkeller enden würde. Ein halbes Päckchen Papiertaschentücher muss ausreichen! Also durchhalten! Am Ende hat auch alles einen Sinn, auch wenn ich selbst nicht begreife, wie sich so etwas überhaupt abspielen kann!

Du lässt eine Schwäche für das Melodramatische und Sentimentale erkennen. Ist das neu für dich?

Was die Ausdrucksform angeht, ist es irgendwie neu, denn diese Erzählzüge haben in Comics keinen leichten Stand. Wenn ich aber zurückdenke, kann ich erkennen, dass ich diese Schwäche von Kindheit an gehabt habe. Wie meine Mutter, so habe auch ich bei traurigen Filmen im Fernsehen eine Träne verdrückt. Ich kann mich auch daran erinnern, dass ich ein bisschen schluchzen musste, als der Filmklub des Gymnasium eine 16-mm-4:3-Fassung von „Die Regenschirme von Cherbourg“ gezeigt hat. Die Stimmung hat das viele Wechseln der Filmrollen überlebt und die Musik von Michel Legrand unterstreicht ja auch in unheimlicher Weise das Wehmütige des Films. Die Geschichte ist eine gallische Ausgabe von Steen Steensen Bilchers Roman „Der Strumpfwarenhändler“, aber doch immer noch sehr traurig. Somit war es eine schmerzliche Rückkehr zu alten Reaktionsmustern, die traurigen Abschnitte in „Zweite Chance für Sasja“ zu schreiben. Beim nochmaligen Durchlesen habe ich sogar eine Träne verkneifen müssen.

War es schwer, den Humor an den Nagel zu hängen?

Nein, eigentlich nicht. Und lustige Bemerkungen und Neckereien gibt es doch trotzdem einige, also es ist keineswegs ein deprimierendes Buch. Eigentlich ist der Lebenswille ein Kernpunkt der Erzählung. Ich freue mich, dass ich jetzt mit der Buchstabenliteratur ungehemmt auf melodramatische Wirkmittel zugreifen kann, die ich in meinen früheren Veröffentlichungen nicht so wirkungsvoll einsetzen konnte. Alles in allem kann man in Büchern, wo der meiste Platz nicht für Illustrationen draufgeht, ein größeres episches Feld abdecken. Es hat mir sehr viel Freude bereitet, zu versuchen, mit dieser neuen Herausforderung zu hantieren.

Bei Licht betrachtet, beschäftigst du dich doch auch schon seit sehr, sehr langer Zeit mit dem Transzendentalen.

Ja, meine allererste richtig gute grenzüberschreitende Idee hatte auch mit dem Thema Leben und Tod zu tun. Das war in dem humoristischen „Det store Nys“ [dt. Der große Nieser], worin die Bevölkerung einer Insel davon abhängig war, wie gut es ihr gelang, eine Diät aus Greisenkartoffeln und Jungbrunnenwasser in der Balance zu halten. Wenn sich die Brutzeit des Drachens, der in dem Pass brütet, der die beiden Seiten der Insel, die Seite mit dem Jungbrunnen und die mit den Kartoffelfeldern, verbindet, einmal eine Zeit lang hinzog, kamen die Einwohner auf der einen Hälfte der Insel durch schnelle Alterung ums Leben und auf der anderen Seite starben sie als Babys. Das ist eine ganz kraftvolle Fantasy-Vision, die mich schon vor 35 Jahren so sehr gepackt hat, dass ich mehrere Versionen davon gemacht habe. Deshalb ist es sicherlich kein Zufall, wenn ich jetzt zu dem großen Thema über die Umstände für Leben und Tod zurückkehre und ihm eine Reihe neuer Wendungen gebe …

Du teilst jede Woche den Arbeitsplatz mit einem Kollegen, der den Preis des dänischen Buchhändlerklubs „Goldener Lorbeer“ bekommen hat und international seinen großen Durchbruch hatte. Wirst du nicht ein bisschen neidisch?

Überhaupt nicht. Damit man solche Gebrechen entwickelt, ist es erforderlich, dass jemand anderes Glück mit etwas hat, mit dem man selbst gerne Erfolg gehabt hätte und von dem man vielleicht sogar der Meinung ist, es selbst besser zu können. Und so ist es mir nie gegangen. Ich habe keinen Ehrgeiz gehabt, etwas zu machen, womit meine Kollegen Erfolg gehabt haben. Im Gegenteil, ich freue mich, wenn jemand in einer beschwerlichen Branche Rückenwind bekommt. Was meinen früheren Studiogefährten angeht, so begleite ich ihn schon seit der Zeit, bevor er reich und berühmt wurde. Er hatte bereits drei ausgezeichnete Thriller geschrieben, bevor ihn auf dem Radweg der Rückenwind so richtig erwischt hat. Als das passiert ist, war das auch Ausdruck dafür, dass die Zeit reif geworden war für die Sichtweise seiner Bücher, und er befand sich zur richtigen Zeit mit dem richtigen Produkt am richtigen Ort im Saugstrahl eines Erfolges, den ein inzwischen verstorbener Thrillerkollege gerade justiert hatte. Und das ist mit solchen Dingen oft so. Die Empfänglichkeit muss vorhanden sein, sonst ist es egal, wie gut das Anspiel ist, das man macht. Aber im Falle meines Freundes kommt ja als wichtiger Punkt hinzu, dass er sich an ein erwachsenes Publikum wendet, das viel Geld für die Bücher ausgeben will. Es ist generell schwieriger, sich innerhalb dessen zu bewegen, was eingestuft wird, Kinder- oder Jugendliteratur zu sein, denn da kaufen in der Regel die Nutzer ihren Lesestoff nicht selbst, sondern sind von Vermittlern abhängig, und deren Geschmack ist es dann, der alles entscheidet. Um diesen Filter kommt man leider nicht herum.

Gegen Schluss lässt die Handlung beinahe Erinnerungen an Nelson Mandela aufkommen?

Das hat sich einfach so ergeben. Das war am Anfang nicht geplant, aber weil am Ende nun einmal ein prominenter Fürsprecher einer neuen Gesellschaftsordnung gerettet worden war, lag es geradezu auf der Hand, auch mit einer Präsidentenwahl abzuschließen, aus der Vadim logischerweise erfolgreich hervorgehen würde, weil seine langjährige Abwesenheit von der politischen Bühne des Landes ihn daran gehindert hatte, durch realpolitische Absprachen kompromittiert worden zu sein, in die andere Mitbewerber im Laufe der Jahre involviert gewesen sind.

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