Kapitel 1
13 Wochen

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Donnerstag, der 28. Mai 2015

Sie sah ihn sofort. Er kam auf sie zu. Der weiße Arztkittel und um den Hals das Stethoskop. Sie saß allein im Wartebereich. Vielleicht war das der Grund, weshalb sie dem Arzt aufgefallen war.
»Was ist denn passiert?«
Sie blickte zu Boden.
»Ach, nichts.«
Er legte den Kopf schief.
»Du machst den Eindruck, als bereitete dir etwas Sorgen.«
Gerade an diesem Ort war das wohl nichts, was nicht auch zu erwarten wäre. Aber wenn er nun schon fragte.
»Ich habe gerade meine Mutter besucht.«
»Wie heißt sie?«
»Rigmor Hansen.«
»Sie liegt hier auf der Station?«
»Ja, es geht ihr … nicht so gut.«
»Das tut mir leid. Haben unsere Ärzte sie aufgegeben?«
Ihm war klar, um welche Station es sich handelte. Sie nickte.
»Ja, es sieht ganz so aus.«
»So etwas ist immer schwer auszuhalten.«
Sie sah auf und Tränen traten ihr in die Augen.
»Es ist unfair.«
Er nickte.
»Das sind Krankheiten meistens. Man ist selten der Meinung, ein hartes Schicksal verdient zu haben. Und für die Angehörigen ist es ebenso schwer.«
»Dabei ist es gerade meine Mutter gewesen, die gesund und enthaltsam gelebt hat.«
»Das ist schade.«
So, wie er es sagte, klang es, als würde er es auch so meinen.
»Sie denkt über eine alternative Heilbehandlung nach.«
»Leute wie ich sagen, das wird den Verlauf nur aufschieben.«
Sie hob wieder den Kopf. Hörte er sich nicht an, als nähme er tatsächlich Anteil?
»Aber selbst dann, wenn das der Fall sein sollte, will der Mensch sich sein Leben doch gern so lange wie möglich erhalten. Auch wenn es extra kostet.«
Er nickte wieder. Die Hände behielt er in den Kitteltaschen, die Daumen allerdings schauten heraus.
»Das möchte man. Hat sie denn das Geld dafür?«
»Vielleicht. Ein Stück weit wird es reichen.«
Er sah auf.
»Alternative Sachen interessieren mich.«
Nun nahm er ebenfalls auf der Bank Platz und setzte sich ihr schräg zugewandt neben sie.
»Allan.«
»Nina.«
Sie gaben sich die Hand. Nina fand trotzdem, dass diese Begegnung ein wenig überraschend kam.
»Hast du denn Zeit, dich hier aufzuhalten?«
Er schaute auf seine Uhr. Eine altmodische Armbanduhr, aber sie sah teuer aus.
»Ich habe Pause. Eine Patientin ist nicht zu ihrem Termin erschienen.«
»Das ist aber auch nicht schön.«
»Wir denken darüber nach, eine Geldbuße für unentschuldigt versäumte Termine einzuführen, wie es bei bestimmten Fachärzten schon gemacht wird.«
»Das wäre nur vernünftig. Dann befürwortest du also alternative Heilmethoden?«
Er zögerte einen Moment.
»Das würde ich so nicht sagen, aber ich war an Studien beteiligt, bei denen Ärzte die Wirkung sogenannter alternativer Heilverfahren bewertet haben.«
»Ich glaube, davon habe ich gehört. Etwas Genaues hat man aber nicht aussagen können.«
»Das ist richtig, und genau da liegt das Problem. Bei manchen Patienten wirken sie, bei anderen nicht. Und es ist schwer zu entscheiden, wie viel der Wirkung dem Placeboeffekt zuzuschreiben ist.«
»Placeboeffekt?«
»Ja, der Glaube daran, eine Behandlung zu erhalten, die wirken sollte und für die der Therapeut selbst sich starkmacht. Wenn es sich um Forschungen zur traditionellen Medizin handelt, beinhaltet so eine Untersuchung im Allgemeinen, dass eine Gruppe von Probanden ein Medikament bekommt, das den neuen Wirkstoff enthält, während eine andere Gruppe nur Kalktabletten einnimmt.«
»Wirken die Kalktabletten denn?«
»Bis zu einem gewissen Grad tun sie das, aber in der Regel lässt sich aufklären, was Ursache der Wirkung war und was nicht.«
»Kann man bei alternativen Heilmethoden dann nicht etwas Vergleichbares machen?«
»Nein, leider nicht. Es gibt so viele Parameter, die dabei ins Spiel kommen. Im Allgemeinen handelt es sich um Behandlungsmethoden, bei denen es während mehrerer Sitzungen zu engem Kontakt zwischen Patient und Therapeut kommt, und bereits die Tatsache, dass ein Therapeut über längere Zeit in persönlicher Beziehung zu einem Patienten steht, kann sich auf das Ergebnis auswirken.«
»Du meinst, der Patient könnte so dankbar dafür sein, dass sich jemand für sein Leiden interessiert, dass er den Therapeuten nur ungern enttäuschen will, indem er sagt, dass es nicht wirkt?«
»Genau. Diese Reaktion erfolgt bestimmt unbewusst. Aber wir haben für unsere Studien Probanden eingesetzt, die das etablierte Behandlungssystem aufgegeben hatte, wie zum Beispiel Patienten der Schmerztherapie, und gewisse Methoden alternativer Kuren schienen tatsächlich wirksam zu sein, nur konnte niemand sagen, wie lange diese Wirkung vorhält und welcher spezielle Typ von Patient darauf anspricht.«
»Dann sollte man das wohl systematischer untersuchen?«
»Das sollte man tun, das allerdings ist teuer, und wenn sich nichts Generelles aussagen lässt, sind die Behörden nicht gerade gesonnen, so ein Vorhaben zu unterstützen. Es wird auch viel Geld kosten, denn eine so lange Reihe von Sitzungen durchzuführen, wird kostspielig, sehr viel kostspieliger, als herkömmliche Medikamente oder Präparate zu Buche schlagen. Gerade zurzeit denken wir darüber nach, Angestellte zu feuern, um Gelder für die neue teure Krebsmedizin freizumachen. Der Haushaltsrahmen muss ja eingehalten werden.«
Der Arzt schrieb etwas auf einen Block. Er riss den Zettel ab und reichte ihn der jungen Frau.
»Eine Facebook-Adresse?«
»Mir ist schon bewusst, das wirkt nicht sehr seriös, aber ich bin gerade dabei, ganz privat ein bisschen Statistik zusammenzutragen, und wenn ich meine offizielle Kontaktadresse dazu benutze, wird man mich hier im Hospital sicherlich schief ansehen. Aber ich möchte gern hören, wozu deine Mutter sich entschließt.«
Nina schaute auf das Stück Papier.
»Dabei helfe ich dir gern.«
Er sah auf seine Uhr.
»Vielen Dank. Ich muss jetzt gehen. Mein nächster Termin müsste schon warten.«
»Dann hoffe ich, sie hat den Termin nicht auch vergessen.«
»Jetzt ist es ein Mann, aber ja, wir sehen dann weiter.«

Nina verließ das Krankenhaus. Ihre Stimmung hatte sich gebessert, doch warum eigentlich? Der Arzt hatte ihr doch nichts versprochen. Aber er hatte interessiert und engagiert gewirkt. Sicherlich war es wegen dem, was er gesagt hatte. Allein, dass jemand Interesse für die Sorgen einer anderen Person zeigte, konnte die Stimmung verbessern helfen, vielleicht sogar in Fällen, in denen man gar nicht wegen einer Krankheit schlecht gestimmt war. Pures Placebo, in der Tat.
Sie ging durch das Foyer, am Kiosk und dem Empfang vorbei zu den Schwingtüren. Die Leute unterhielten sich über die bevorstehende Wahl zum Folketing, die gerade angesetzt worden war.
Nina wartete, bis ein Gehbehinderter an ihr vorübergegangen war, dann betrat sie die Schleuse und stand schon bald in der windigen und feuchten Nachmittagskühle. Wie schön es doch wäre, wenn der Sommer sich bald zeigte. Laut Kalender sollte er schon angefangen haben, aber noch fehlte es an einem stabilen Hochdruckgebiet mit Temperaturen von bis zu zwanzig Grad, mit hoch stehender Sonne und klarem blauen Himmel bei beinahe windstillem Wetter. Die Sehnsucht nach dem Sommer war bestimmt eine Frage der Vitamine. Die Sonne würde die Menschen mit den Vitaminen versorgen, die dabei halfen, die Frühjahrsmüdigkeit und die trübe Stimmung zu verdrängen.
Die Sache mit der alternativen Medizin weckte bei Nina einiges Interesse. Tatsächlich bestand eine der Behandlungsmethoden gegen Krebs darin, dem Patienten über einen längeren Zeitraum eine extreme Überdosis an Vitaminen zu verabreichen. Es gab Patienten, denen es geholfen zu haben schien, denn es war ihnen damit besser gegangen. Es fanden sich sogar Beispiele dafür, dass Krebspatienten, die nur noch wenige Wochen Lebenszeit in Aussicht gestellt bekommen hatten, noch Jahre überlebten, und man hatte messen können, dass die Entwicklung von Krebszellen gestoppt worden war. Das war wohl, was man ein Wunder nannte. Die Art von Wunder, auf die schwer Erkrankte immer hofften.

Nina machte sich auf den Weg nach Hause. Sie hatte den Nachmittag freibekommen, musste ihn aber an einem anderen Tag nacharbeiten. Auf seinen Vollzeitjob musste man gut achtgeben. Auch kümmerte sich um Arbeitsverhältnisse mit verkürzter Arbeitszeit die Gewerkschaft nicht. Deren Denken war längst überkommen. Entweder war man Vollzeit beschäftigt mit allen Arbeitnehmervorteilen, oder aber man war einfach arbeitslos. Und mit Freiberuflern hatte man im Lohnsystem überhaupt nicht gern zu tun. Bei ihnen wurde mit der Kontrolle der Arbeitszeiten zu nachlässig umgegangen. Es konnte zu Missbrauch kommen. Doch die alten Berufsorganisationen mussten nun bald damit beginnen, in neuen Bahnen zu denken, denn auf dem Arbeitsmarkt standen schon Menschen bereit, die nicht auf Arbeitsverträge bestanden, in denen Arbeitszeitregelungen oder Versicherungen vereinbart waren.
Auf ausländischen Arbeitsmärkten gab es schlecht bezahlte arbeitszeitungebundene Arbeiter oder Aushilfen, sogenannte ›working poor‹, die durch die Regelwerke der EU nur schwer vom dänischen Arbeitsmarkt fernzuhalten waren. Gerade im Moment wartete man auf eine Entscheidung des Arbeitsgerichts darüber, inwieweit es den Gewerkschaften erlaubt war, aus Sympathie gegen die allzu schlechten Arbeitsbedingungen einer Luftfahrtgesellschaft, die auf dem dänischen Markt aktiv geworden war, zu streiken.

Nina musste nicht lange mit den anderen Besuchern des Krankenhauses, die ebenfalls wieder abfuhren, an der Bushaltestelle warten. Es führten mehrere Buslinien am Hospital vorbei, das früher einfach Krankenhaus geheißen hatte. Im nächsten Bus war für alle Platz, auch für den Mann mit der Gehhilfe.
Als der Bus an die Haltestelle fuhr, befanden sich bereits ein Rollstuhl und eine Gehhilfe darin. Für einen Kinderwagen wäre kein Platz mehr gewesen. Immer mehr Menschen hatten Gebrechen, was wohl auch nicht unverständlich war, wenn die Lebenserwartung immer weiter zunahm. Mehr oder weniger gehörte Ninas Mutter sicher auch zu diesem Personenkreis. Sie hatte ebenfalls ein Alter erreicht, bei dem man im Falle ihres Todes sagen würde, dass es natürlich traurig wäre, aber keine Tragödie.
Nina zählte. Dieses Mal waren es acht Fahrgäste, die auf ihr Smartphone schauten. Diese Angewohnheit hatte sie sich nicht angenommen. Wenn sie im Netz surfen wollte, wartete sie damit, bis sie zu Hause war und einen größeren Bildschirm dafür zur Verfügung hatte. Wie immer waren es junge Menschen, die von ihrem Telefon in Anspruch genommen wurden. War man fünfzig oder darüber, saß man einfach auf seinem Platz und wartete darauf, die Fahrzeit hinter sich zu bringen.
Ihr kam eine bekannte scherzhafte Wendung in den Sinn, die von einem Verstorbenen handelte, der sich vor Petrus verantworten musste, der an der Schranke zur Himmelspforte vor aufgeschlagenem Hauptbuch auf die Ankunft der Seele wartet: »Also, Karl-Bertil, viel hast du aus deinem Leben ja nicht gemacht, denn wie ich sehe, hast du die meiste Zeit nur auf dein Smartphone geschaut.«

Als Nina ankam, war Charlotte war schon zu Hause. Wieder hatte sie ihren Rucksack im Wohnzimmer auf den Boden geschmissen, obwohl Nina sie darum gebeten hatte, es zu unterlassen. Was war es doch für eine Erleichterung, dass das Kind nicht mehr von der Schule abgeholt oder hingebracht werden musste. Damals, als Charlotte noch nicht allein zur Schule oder zu anderen Aktivitäten gehen konnte, hatte Nina noch ein Auto besessen, es später aber aus Spargründen abgeschafft. Inzwischen führte Charlotte ihr eigenes Leben, aber als sie mit einem Marmeladenbrot in der Hand aus der Küche kam, war sie dennoch aufmerksam genug, auch an Ninas Leben Anteil zu nehmen.
»Na, wie geht es Omi?«
»Ach, es hat sich wohl kaum was verändert.«
»Dann behalten sie sie wohl nicht länger auf Station?«
»Sie stellen gerade auf eine neue Medikamentenkombination um, also, bis sie herausgefunden haben, wie sie wirkt, werden sie sie noch ein bisschen dort lassen.«
»Wahrscheinlich rechnen sie nicht damit, dass sie so lange durchhält.«
»Das haben sie nicht gesagt.«
»Haben sie denn nicht gesagt, wie viele Monate oder Wochen noch zu erwarten sind?«
»Nein, noch nicht, aber das kommt vielleicht noch.«

Charlotte setzte sich zu ihr.
»Was machst du da, Mutti?«
»Ach, ich wollte nur was in Facebook nachsehen.«
»Was denn?«
»Jemanden, den ich heute im Wartebereich getroffen habe.«
»Einer, der auch da gewartet hat?«
»Nein, ein Arzt, dem ich dort aufgefallen bin.«
»Hat er dir etwa seine Facebook-Adresse gegeben?«
»Ja, tatsächlich.«
»Wieso denn das?«
»Er wollte gern mehr über die alternative Heilbehandlung erfahren, zu der Omi sich vielleicht entscheiden wird.«
»So was interessiert Ärzte doch sonst nicht.«
Nina schaute zu ihrer Tochter auf.
»Ich glaube, da bist du ein bisschen zu voreingenommen, mein Kind.«
»Na ja, es sollte einen ja freuen, wenn sie sich neuen Behandlungsmethoden gegenüber offen zeigen.«
»Das ist auch nicht offiziell, dass er sich dafür interessiert, deswegen habe ich ja auch seine Facebook-Adresse bekommen. Ja, hier ist er.«
»Ist er das?«
»Allan Laurholdt.«
»Er sieht doch gut aus.«
»Ja, das tut er.«
»Dann hat er sich also in dich verknallt, Mutti?«
»Ach, jetzt hör aber auf, Charlotte.«
»Waren da nicht so vibes
»Vibes
»Schwingungen. Impulse. Übereinstimmungen. Chemie?«
»Möglicherweise war da was, aber ich weiß nicht so richtig …«
Charlotte verschlang den letzten Bissen von ihrem Brot und sprach mit vollem Mund weiter. Diese Unsitte von ihr hatte Nina aber schon so oft moniert, dass sie jetzt keine Lust mehr dazu hatte.
»Ja, ja, gebranntes Kind scheut das Feuer.«
»Wie auch immer, ich denke, für eine neue Beziehung bin ich noch nicht bereit.«
»Ich glaube, er hat sich dich ausgekuckt.«
»Die spinnst, mein Kind.«
»Wieso sollte ein so gut aussehender Arzt sich sonst im Wartezimmer plötzlich an dich wenden, wenn er nicht eben mal die Stimmung ausloten will? So sind die Männer doch.«
»Ihm war aufgefallen, dass ich nach dem Besuch bei Omi ein bisschen traurig gewesen bin.«
»Ach wirklich, so was wie Mitgefühl? Soll ich dir mal was sagen, Mutti? Wartezimmer sind voller Leute, die deprimiert aussehen. Er hat sich garantiert in dich verknallt.«
»Hast du keine Hausaufgaben auf?«
»Doch, doch, ich lasse dich ja schon in Ruhe, damit du dich in sein Profil vertiefen kannst.«

Es machte nicht den Eindruck, als wäre Allan ein besonders geheimnisvoller Mensch, denn aus seinem Profil war eine ganze Menge über ihn herauszulesen. Er hatte über dreihundert Freunde und es gab tatsächlich Einträge zu alternativen Heilmethoden, über die er Erfahrungen zusammentrug.
Allan schien aus einer adeligen Familie zu kommen, obwohl diese Verwandtschaft ein bisschen entfernt war, und es gab weitere Ärzte in der Familie. Sie schien wohlhabend zu sein, was aber wohl auch nicht so merkwürdig war, da er und die meisten anderen Familienmitglieder Universitätsabschlüsse besaßen.
Nina schickte ihm eine Nachricht und bedankte sich für das Interesse, das er ihr gegenüber gezeigt hatte. Sie wollte sich wieder bei ihm melden, wenn sie mehr wusste.

Wo sie schon mal auf Facebook war, konnte sie auch gleich noch checken, was es sonst noch Neues gab, auch wenn es sich meistens um Einträge handelte, die ihre Freunde hauptsächlich deshalb geteilt hatten, weil die Beiträge lustig waren. Gerade hatte man Wahlen zum Folketing angesetzt, und ihr fiel ihr, dass die meisten ihrer Bekannten Sympathien für den roten Flügel zu haben schienen.
Ein Freund hatte einen Beitrag geteilt, um zu provozieren: »The problem with socialism is that you eventually run out of other people’s money.«, und dazu gab es ein Bild von Margaret Thatcher. Ein anderer Kommentator hatte sich mit einem Bild vom Weißen Haus und dem Post: »Anything the gouvernment gives you was taken from somebody else«, der Aussage angeschlossen.
Viele der gegenwärtigen Wähler kamen aus Bevölkerungsteilen, die Transferleistungen bezogen, und die extremistischsten Parteien, die deren Interessen vertraten, zeigten kein sonderliches Ethos gegenüber einer Unterstützung von Unternehmen, die Geld kassierten, das eigentlich an die Menschen verteilt gehört hätte.
Da fand sie die Karikatur eines reichen Mannes, der auf einem Berg aus Geld stand und verärgert auf einen kleinen Kerl hinunterzeigte, der ein Schild mit der Aufschrift »Raise the minimum wage« hochhielt. Der Reiche zeigt also auf den Burschen und schreit: »Your greed is hurting the economy!«
Das Motiv dieser Zeichnung war natürlich klar zu verstehen, doch wurde vergessen, dass auf jeden der sehr Reichen Hunderttausende dieser kleinen Kerle kamen.
Nina selbst hielt sich aus den verbalen Auseinandersetzungen heraus, die einen ganz scharfen Ton annehmen konnten. Aber so war das heutzutage. Die Leute hatten Lust, sich auszutoben, und wenn sie das mittels eines Bildschirms machen konnten, der sich zwischen ihnen und den anderen befand, erlaubten sie sich gern einmal zu Übertreibungen und Vereinfachungen zu greifen, von denen sie nur in abgemilderter Form Gebrauch machen würden, wenn die Beteiligten sich von Angesicht zu Angesicht gegenüberstünden.
In einem Posting zeigte sich der Schriftsteller Mark Twain mit seinem charakteristischen Konterfei, darunter ein Zitat von ihm: »If voting made a difference they wouldn’t let us do it.«
In einem Witz fragte ein Meinungsforscher eine Wählerin: »Was machen wir mit denen, die Geld von der öffentlichen Hand bekommen, ohne selbst einen Nutzen zu erbringen?« worauf eine Frau, die mit verschränkten Armen in einer Tür stand, antwortet: »Schmeißt sie aus dem Folketing!«

Nina ging inzwischen fast täglich auf Facebook. Meistens war es entspannend, denn ihr Freundeskreis hielt sich in der Regel an friedlichere und entspanntere Postings, und verzichten konnte sie darauf auch nicht, denn persönlich kannte Nina nicht so viele Menschen, dass sie damit ihre sozialen Bedürfnisse hätte befriedigen können.
Man konnte nicht anders, als ruhig werden, wenn man sich den Film eines Drachenfestivals mit Hunderten leichter Plastikdrachen ansah, die wie Windsäcke von riesigen Ausmaßen und in allen möglichen Gestalten den Himmel bevölkerten.
Interessant war auch, dem Versuch zu folgen, bei dem ein viele Quadratmeter großer Spiegel im Dschungel aufgestellt wurde, um zu beobachten, wie Tiere auf ihr eigenes Spiegelbild reagierten.
Sie studierte auch das Video eines Äffchens, das nach der Berührung eines elektrischen Fahrdrahtes handlungsunfähig gelähmt am Boden lag. Einem anderen Affen gelang es, es wieder zum Leben zu erwecken. Der Beitrag stammte wohl aus Indien und war tausende Male geteilt worden.
Die Ernte des Tages hatte auch Patzer zu bieten, die im Straßenverkehr begangen worden waren, und todesverachtende Fahrten mit dem Fahrrad auf engen Bergpfaden. Der Fahrradfahrer hatte dabei eine dieser neuen kleinen Minikameras am Helm getragen, die die Fahrt aus der Weitwinkelperspektive begleitet hatte.

Schließlich gab es noch mehrere Videos mit geschickten Zirkusartisten oder mit Wunderkindern, die auf beeindruckende Weise ihre Musikinstrumente beherrschten.
Dann war da das Bild eines erwachsenen Mannes, der sich soeben mit einer Kinderbraut verheiratet hatte. Offenbar gab es Gegenden in der Welt, in der Pädophilie ganz legal war, ebenso wie Frauen und Kinder dort keine Rechte besaßen. Vor diesem Hintergrund war nicht schwer zu verstehen, dass Dänemarks Frauen dankbar darüber waren, vor hundert Jahren gemeinsam mit den weniger gut betuchten Männern das Stimm- und Wahlrecht erhalten zu haben. Es gab auch Einträge, die dieses Jubiläum kommentierten.
Glücklicherweise hielt Facebook auch ein Gegengewicht zu diesen ernsten Beiträgen bereit. Witze gab es ausreichend.
»Als ich Kind war, konnte man mit fünf Kronen in der Tasche in einen Zeitungsladen gehen und mit einer Tüte Haribo Piratos, zwei Yankie Bars, zwei Päckchen Stimorol und einer Limo nebst der neuesten Ausgabe von Donald Duck wieder herauskommen … Das geht nun nicht mehr … Heute ist einfach alles videoüberwacht …«
Und schließlich fand sich da noch das Posting, das sich über das Phänomen Facebook an sich lustig machte. »Please copy this and post it if you know someone, or have heard of someone that may have known someone who knows anyone. If you don’t know anyone or even if you’ve heard of anyone who doesn’t know anyone that doesn’t know someone, then still copy this. It is important to spread the message. Oh, and the hearts. Don’t forget the freakin’ hearts.«

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