Kapitel 7
Der Autist

Die Arche

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Dem Haus war der Name „die Arche“ verliehen worden, weil Noa es als behüteten Ort für gescheiterte hilflose Menschen geschaffen hatte, die für ihre Zukunft irgendwann einmal auf einen sicheren Hafen hofften. Den Namen hatte die Einrichtung von klugen Psychologen erhalten, als er für eine Gruppe psychiatrischer Patienten, von denen angenommen wurde, sie nicht länger in einer Einrichtung unterbringen zu müssen, als Wohnprojekt in Gebrauch genommen worden war. Einige seiner Bewohner sah man als so gut funktionierend an, dass sie außerhalb der Institutionswelt zurechtkommen würden, wenn sie im Alltag nur ein wenig beaufsichtigt wurden.
Die Einrichtung des Hauses, das diese Klientel beherbergen sollte, ging nicht ohne Probleme ab. Die Bewohner des umliegenden Eigenheimviertels waren sehr skeptisch gewesen. Es wurde damit gerechnet, dass zumindest der Verkehrswert der Grundstücke sank, wenn sie in der Nähe eines Asyls für Geisteskranke lagen. Der Wert des Eigentums würde zwar nicht geringer ausfallen, aber es bestand die Gefahr, dass man für sein Haus nicht so viel Geld bekam, falls man die Gegend aus irgendeinem Grund verlassen musste.
Selbstverständlich gehörte es nicht zum guten Ton, materielle Gründe für die Ablehnung anzuführen. Also wurde die Angelegenheit mehr zu einer Frage der Sicherheit erklärt, speziell die der Kinder, wenn in der Nachbarschaft eine Horde verrückter Menschen frei herumlief.
Die Institutionen wurden gezwungen, sich zu rechtfertigen und zu betonen, dass es überhaupt keinen Grund zur Besorgnis gab, und es sich nicht um gefährliche psychotische oder psychopathische Patienten handelte, die man plante, aus den Krankenhäusern zu entlassen. Es waren gutherzige und ungefährliche Menschen, die keiner Fliege was zuleide tun würden.

„Denk dran, dass du leise gehst.“
„Warum?“
„Ich glaube, die anderen schlafen.“
„So zeitig?“
„Wir haben einen Schlafplan, den wir einzuhalten versuchen.“
„Schlafplan? Hast du den eingeführt?“
„Nein, das steht so im Stiftungsbrief.“
„Das passt dir bestimmt ausgezeichnet, ich meine, wenn alles festgelegte Rahmen hat. Wer achtet darauf, ob ihr die Regeln befolgt?“
„So starr ist es auch nicht. Aber ‚die Kons‑Tante‘ hat ein Auge auf uns.“
„Wer ist die Konstante?“
„Das ist ein Kosename. Sie ist eine Angestellte der Einrichtung, die hin und wieder vorbeikommt und fragt, wie es geht. Sie soll auch Buch führen und darauf achten, dass wir das Budget einhalten. Also, dass alles ‚konstant‘ läuft.“
„Das ist also notwendig?“
„Im Prinzip nicht. Aber wir können sie auch als eine Art Beraterin heranziehen, wenn etwas ganz daneben geht.“
„Und da gehört sicher nicht viel dazu, bis du das denkst?“
„Im Gegenteil, ich halte praktisch alles zusammen.“

Sie waren die Treppe hinaufgestiegen und liefen jetzt den Gang entlang, der zu dem Giebelzimmer führte, in welchem Bertil wohnte.
„Was ist in all diesen Kisten, die an der Seite stehen?“
„Och, das sind einige meiner Sammlungen. Man kann dort unter der Dachschräge sowieso nicht aufrecht gehen, deshalb habe ich mir diese Ecke ausgesucht, um etwas zusätzlichen Platz für mein Archiv zu bekommen.“
„Wo haben die Sachen früher gestanden?“
„Zu Hause bei meinen Eltern. Aber es ist doch etwas unpraktisch, wenn die Sammlungen aktualisiert werden müssen.“
„Kommt das oft vor?“
„Ja, im Prinzip passiert das häufig. Wenn ich eine Runde zu den Trödlern gemacht habe, komme ich in der Regel mit einigen Sachen nach Hause, die in eine oder mehrere der Sammlungen eingefügt werden müssen.“

Bertil und Emma hatten sein Zimmer betreten. Sie sah sich darin um. Die Listen an den schrägen Wänden, die das Gefühl gaben, sich in einer Zigarrenkiste aufzuhalten, waren für sie wahrscheinlich nicht so spannend.
„Du hast eine Menge Nippes.“
„Ich bedauere, aber das ist leider eine meiner Schwächen. Wenn ich etwas Lustiges finde, kann ich nicht anders, als es zu kaufen.“
„Was ist das hier?“
Sie schob eine kleine Platte zu Seite, um zu sehen, was sich in der schmalen Box verbarg.
„Autsch!“
Eine schwarze Schlange stieß heraus und biss ihr in den Finger. Emma fasste sich jedoch schnell wieder. Die Schlange war nur aus Holz.
„Du bist gerissen und ekelhaft.“
„Dann solltest du die Pappe dort an der Wand besser nicht umdrehen.“
Bertil zeigte auf ein sorgfältig angefertigtes Hängeschild, auf das er in akkurater Schönschrift eine Warnung geschrieben hatte: „Diese Karte im Brandfall umdrehen!“
Sie tat es trotzdem. Auf die Rückseite hatte er die logische Mitteilung: „Nur im Brandfall, du Idiot!“, gesetzt.
„Du bist nicht nur gerissen, sondern auch noch frech.“
Emma schüttelte den Kopf, musste aber lachen.
„Ich habe es hauptsächlich deshalb aufgehängt, um eventuellen Besuchern demonstrieren zu können, dass selbst todernste Autisten eine gewisse Form eines humoristischen Sinns besitzen können.“
„Wer ist das?“
Sie hatte eines der Filmbilder an der Dachschräge entdeckt.
„Das ist die Diva.“
„Du meinst …?“
„Ja, ich habe eine Schwäche für ihre Filme. Sie sind so … aufrichtig, jedenfalls wirken sie so. Ich fühle mich am sichersten bei alten Filmen aus einer Welt, die überschaubar ist und in der die Leute versuchen, sich anständig aufzuführen.“
„Anständigkeit wird stark überbewertet.“
„Möglicherweise hast du recht, obgleich ich nicht richtig verstehe, weshalb du das sagst.“
„Das ist eigentlich sehr einfach. Guter Ton und höfliches Benehmen helfen dabei, die Menschen zu unterdrücken. Es lässt sie davor zurückschrecken, etwas Unbekanntes zu wagen und Grenzen auszutesten, und wenn sie es doch versuchen, werden sie in den Büchern und den Filmen von früher oft dafür bestraft.“
„So habe ich das noch nicht gesehen.“
„Nein, denn dir scheint es mit einschränkten Formen der persönlichen Entfaltung ausgezeichnet zu gehen, aber du bist ja auch etwas speziell.“
„Und trotzdem wirkt es so, als wenn dir der Sinn danach steht, mit mir Umgang zu pflegen.“
„Ja, das ist eigentlich auch seltsam.“
„Soll ich mich geschmeichelt fühlen?“
„Das brauchst du nicht. Es kann auch sein, dass ich dich in der Hauptsache als Versuchskaninchen betrachte. Ein exotisches andersartiges Geschöpf, das ich mit Neugier, gemischt mit Verwunderung und Unglaube, beobachte.“
„Danke, es ist ganz und gar nicht notwendig, diesen Gedankengang weiter zu entwickeln.“
„Das brauchst du dir gar nicht so nahegehen zu lassen. Nach allem, was ich verstanden habe, unterscheidet sich diese Sichtweise nicht so sehr von dem Zugang, den du selbst zum Leben hast.“
„Abgesehen davon, dass für mich die ganze Welt so aussieht, und nicht nur ein Kaninchen.“
„Ja, du bist aber doch auch nicht ganz normal. Vielleicht ist es das, was ich ein wenig faszinierend finde, auf eine ganz eigene kranke Manier.“
Bertil stand vor ihr, wurde unsicher und begann an sich zu zweifeln. So erging es ihm jedoch oft. Aber es war hart, analysiert zu werden und das Ergebnis von jemand anderem in Worte gefasst zu hören. Andererseits wurde ihm dadurch auch bestätigt, dass es sich eben genau so verhielt, und demzufolge sein eigenes Erleben kein verdrehtes Blendwerk war, sondern ziemlich maßgeblich.

Er hatte auch nicht mit einem anderen Ausgang gerechnet, und so entwickelte es sich, wie es vorherzusehen war. Emma schlief auf dem Sofa und er musste seine Einsamkeit auf seiner Lama‑Matratze im Griff halten, wie er es immer machte. Neu war jedoch, ein weibliches Wesen zum Übernachten im Zimmer zu haben, sodass sich trotzdem von einer Art Sieg in seinem Projekt der Ausweitung seines sozialen Aktionsradius’ sprechen ließ. Emma wünschte ihm eine gute Nacht.
„Schlaf gut und lass dich vom Ungeziefer beißen.“
„Was meinst du?“
„Das sagt man im Ausland. Es ist positiv gemeint.“
„Wie wenn man einem Skiläufer Hals- und Beinbruch wünscht?“
„So in etwa, ja. Wann stehen wir morgen auf?“
„Wir dürfen wahrscheinlich bis sieben Uhr schlummern.“
„Was für ein Luxus.“
„Aber ich stelle den Wecker nicht, dann lassen die anderen uns vielleicht länger schlafen.“

Was sie dann jedoch nicht taten. Pünktlich um sieben Uhr schaute Allan herein. Das durfte er, und wenn jemand nicht gestört werden wollte, schloss man einfach die Tür ab.
„Kikeriki.“
„Danke, Allan, lass gut sein.“
„Es gibt Frühstück.“
„Was sollte es auch sonst um diese Tageszeit geben?“
Allan schloss die Tür hinter sich. Emma gähnte und rieb sich die Augen exakt so, wie es in den alten Filmen gemacht wurde, wenn jemand deutlich zeigen wollte, dass er jetzt also wach wurde. Sie sah aber davon ab, sich überall zu kratzen. Bertil warf die Beine über die Bettkante.
„Ich gehe eben mal runter und spritze mir ein bisschen Wasser ins Gesicht.“
„Okay. Dann bin ich anschließend dran.“
Auf dem Weg traf er Allan, oder richtiger war es wahrscheinlich eher Allen, der offenbar rein zufällig Bertil traf.
„Irre ich mich oder hast du ein Mädchen mit auf dem Zimmer?“
„Ja, es ist eine Cousine, die mich besucht.“
„Eine Cousine. Du hast doch keine Cousine.“
„Jetzt habe ich eine.“
Bertil schloss die Tür zum Badezimmer, um weiteren inquisitorischen Fragen das Wort abzuschneiden.

Als er wieder in sein Zimmer kam, war Emma startklar. Er reichte ihr eine neue Zahnbürste.
„Bitte schön. Die ist unbenutzt.“
„Wie aufmerksam. Dann hast du immer eine frische Zahnbürste für die Mädchen, die dich besuchen kommen zur Hand?“
„Jepp, mein Herz. The Shadow knows.“
„Dann, denke ich, werde ich bis nach dem Frühstück warten. Es ist doch ein reguläres ‚Bed & Breakfast‘?“
„Das Beste, was das Haus zu bieten hat.“
„Bestimmt ziemlich gut.“
„Aber du musst dich mit den anderen Blödianen rumplagen.“
„Ich werde den ganzen zoologischen Garten mit andächtigem Interesse betrachten.“

Als sie zum Frühstückstisch herunterkamen, hatten sich die übrigen Mitbewohner bereits versammelt. Wie Bertil feststellte, war mit dem Frühstück allerdings noch nicht begonnen worden.
„Habt ihr noch nicht angefangen?“
„Nein, das sind keine guten Manieren.“
„… wenn man Gäste hat.“
„Na, ja, stimmt auch wieder. Das hier ist dann also meine Cousine Emma.“
Einige der Versammelten grüßten im Chor.
„Hallo, Cousine Emma.“
„Wir wussten nicht, dass Bertil eine Cousine hat.“
„Nun, ich habe aber eine.“
„Er hat noch nicht von dir gesprochen.“
Emma reagierte pfiffig. Offenbar wollte sie Bertils Alibi nicht durchlöchern, aber ihn doch ein wenig aufziehen.
„Das kommt einfach daher, weil er sich meiner schämt.“
„Schämt sich Bertil wegen dir?“
Es war allen Anwesenden völlig unbegreiflich, dass sich jemand einer solchen Einmaligkeit an Perfektion schämen konnte, so, wie Emma aussah. Das war die Reaktion, die sie auch beabsichtigt hatte.
„Ja, ich kann seinen strikten Regeln für gutes Benehmen nicht genügen.“
Zu Bertils Verärgerung nickten doch tatsächlich ein paar von ihnen.
„Ja, das stimmt. Bertil ist recht streng.“
Emma führte ihre Neckerei weiter.
„Er möchte das Essen am liebsten schon gegessen und verdaut haben, bevor er sich traut, es zu verputzen.“
Es entstand ein fünf Sekunden langes Schweigen. Dann begannen einige zu lachen.
„Ja, das ist absolut richtig. Alles muss genau geprüft und kontrolliert werden.“
„Und wenn es nicht schon passiert ist, muss es schnellst möglich nachgeholt werden, damit Bertil zufrieden ist.“
Fast war es so weit, dass er bereute, Emma nach Hause eingeladen zu haben. Doch andererseits waren das alles seine Freunde, die er gut kannte und die es gut mit ihm meinten. Unter dieser Zusammenkunft war es für Bertil ohne Weiteres akzeptabel, wenn die Grenzen ein wenig fließend verliefen.
„Soll es Joghurt mit Müsli oder Cornflakes mit Milch sein?“
„Du kannst auch Haferbrei haben.“
„Ja, und mit Rosinen.“
„Aber dann dauert es noch fünf Minuten.“
Emma wägte das Angebot ab.
„Ich möchte gern Cornflakes mit Milch.“
Helmer reichte ihr den Karton.
„Das ist auch eine gute Wahl. Das sind nämlich richtig gewalzte Körner, nicht der Pfusch, den sie aus Maismehl zusammenkleistern.“
Emma schüttete sich die Flakes in ihre Schale.
„Wie ich höre, handelt es sich hier um eine qualitätsbewusste und anspruchsvolle Klientel.“
„Das stimmt tatsächlich. Nur das Beste ist gut genug für uns.“
„… falls wir nicht überschnappen.“
Emma probierte einen Mundvoll.
„Macht ihr das manchmal?“
„Ja, das kommt vor.
„Ganz ausnahmsweise.“
„Aber dann haben wir ja noch die Kons-Tante.“
„Sie greift uns unter die Arme und verpasst uns eine Abreibung.“
„… wenn wir es verdient haben.“
„Das kann ich nur schwer glauben. Ihr seht doch alle so nett aus.“
Sie senkten den Blick und schielten sich gegenseitig aus den Augenwinkeln an.
„Och, wir können auch schnell mal ganz schlimm sein.“
„Ja, uns fällt es auch nicht immer so leicht, zu erkennen, wo die Grenzen verlaufen.“
„… so wie dir.“
Emma richtete sich auf.
„Aber dann scheint es ja so, dass ich in die richtige Gesellschaft gekommen bin.“
Die ganze Versammlung schwieg beklommen. Hier saß das attraktivste und normalste Mädchen aller Zeiten und gab zu, dass dieses die richtige Gesellschaft für solch ein Mädchen war. Wie groß konnte es werden?

„Ich finde, du isst nicht sehr viel, Bertil?“
Emma wandte sich ihm zu.
„Ich bin nicht so hungrig.“
Die Versammlung konnte gar nicht genug für Emma tun.
„Wir haben auch Kaffee und Tee.“
„Ja, und Toast mit Aufschnitt. Käse und Marmelade und außerdem Erdnussbutter. Mumsfilibaba.“
„… und Knäckebrot.“
Emma schien überwältigt.
„Das ist fabelhaft. Ich denke, ich werde das hier zu meiner bevorzugten Gaststätte erwählen.“
Die anderen wussten nun nicht genau, ob sie das auch so meinte, auch wenn es grandios wäre. Es wurden auch ein paar kleine Bedenken vorgebracht.
„Ich habe Angst, dass unser Budget das nicht hergibt.“
„Dann musst du dich hier einweisen lassen.“
„Und das ist nicht so einfach, leider.“
„Nein, das erfordert praktisch einige besondere Quali… Voraussetzungen. Was das angeht, sind wir ja Pivil… Auserwählte.“
Emma nickte.
„So viel habe ich auch verstanden. Bertil hat mir erzählt, dass ihr die besten Freunde seid, die er jemals gehabt hat, und dass es ihm schwerfallen würde, wenn er auf euch verzichten müsste.“
„Das hat Bertil gesagt?“
Emma nickte.
„Das hat er uns nie erzählt.“
„Nein, solche Sachen behält er für sich.“
„Ja, genau.“
„Na, jetzt wisst ihr es jedenfalls. Auf alle Fälle ist er dieser Meinung. Das bist du doch, Bertil?“
Der nickte und senkte den Kopf. Weshalb musste er hier sitzen und sich darüber schämen, dass er nicht selbst auf den Gedanken kam, so etwas Einfaches zu sagen? Wenn er doch tatsächlich dieser Meinung war und er wissen sollte, dass die anderen das auch gern hören wollten, wenigstens ein einziges Mal?
Emma bekam seine Verlegenheit mit.
„Bertil ist doch ein bisschen schüchtern, wisst ihr. Er nimmt den Mund nicht so voll und er sagt selten mehr als das Allernotwendigste.“
Die anderen nickten.
„Wir haben wirklich auch unsere Fehler.“
„… und Beschränkungen.“
„Wir sind eine traurige Ansammlung von psych… von Losern.“
Emma schüttelte den Kopf.
„Es sind die anderen, die die Loser sind, wenn sie die Augen nicht dafür öffnen wollen, wer ihr wirklich seid.“

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