Kapitel 3
Festung Europa

Das Palais

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Leider lief es, wie Markus und Sofia befürchtet hatten. Sie konnten lange von dem großen Lager mit Lebensmitteln überleben. Es gelang ihnen auch, rund um die Stadt kleinere Depots anzulegen, sodass sie sich mit neuem Nachschub versorgen konnten, wenn sie etwas brauchten, ohne dafür jedes Mal in den Keller zurückzumüssen und dabei Gefahr zu laufen, dass ihr Lager dadurch von anderen Leuten entdeckt wurde.
Trotzdem musste es jemanden gegeben haben, dem sie aufgefallen waren. Immerhin hielten sie sich nicht allein in der Stadt auf. Besonders an ihnen war jedoch, dass sie ohne Hilfe zurechtkamen. In der Vergangenheit waren oft Menschen auf eigene Faust unterwegs gewesen, aber diese Zeit ging nun vorüber. Nach und nach waren Einzelpersonen oder kleinere Gruppen gezwungen gewesen, sich zu großen Gruppen zusammenzuschließen, um überleben zu können. Diese Gruppen hatten die Stadt unter sich aufgeteilt, sodass jede ihr Territorium besaß, das sie verteidigen musste.
Große Gruppen hatten entscheidende Vorteile. In manchen gab es Ärzte oder Krankenschwestern. Manchmal war es auch gelungen, Medizin und Ausstattungen von Apotheken zu beschlagnahmen, um Verletzungen oder Krankheiten behandeln zu können, falls es erforderlich wurde.
Verwundungen entstanden hauptsächlich deshalb, weil die einzelnen Gruppen sich miteinander in einem ewigen Krieg befanden. Dabei kam es leicht zu Wunden und Verletzungen, die versorgt werden mussten. Gute Krieger waren gesucht, und man bemühte sich, sie so lange wie möglich am Leben zu erhalten, denn das Viertel musste unablässig beschützt werden.

Eines Abends saßen Markus und Sofia zusammen und bereiteten sich wie schon früher auf einem alten Spielplatz in einem Spielhaus auf ihr Abendessen vor. Sofia mochte diesen Ort sehr, denn die Spielgeräte waren noch benutzbar. Sie wurde zwar zu groß, um zu spielen, aber manchmal fand sie trotzdem Gefallen daran, eine Runde auf der Rutschbahn oder auf den Schaukeln zu drehen. Nun aber war ihr die Idee zu einem ganz anderen Spiel gekommen.
Zuvor hatten sie an dem Tisch im Spielhaus gegessen. Das war gemütlich gewesen, denn dort hatte jeder an dem Brettertisch seine Seite, an der er saß. Doch heute wollte Sofia anspruchsvoll sein. Na ja, nicht anspruchsvoll, aber sie hatte einen Vorschlag gemacht, den auch Markus reizvoll fand.
„Nein, heute, finde ich, sollten wir eine Tischdecke haben.“
„Eine Tischdecke?“
„Ja, das ist so ein Stück Stoff oder Tuch, das man auf den Tisch legt, bevor man aufdeckt.“
„Aufdeckt?“
„Ja, mit Besteck und Tellern, Gläsern und Servietten. Hast du wirklich noch nicht davon gehört? Was hast du denn für eine Erziehung genossen?“
Markus war erwachsen und ehrlich gesagt war er es, der über viele Dinge am meisten Bescheid wusste. Mit dem Aufdecken verhielt es sich praktisch ebenso, und seiner Erziehung fehlte es an nichts. Aber sicherlich neckte Sofia ihn nur. Sie wollte gern zeigen, dass auch sie etwas aus der Zeit, bevor die Welt aus den Fugen geraten war, kannte.
„Doch, ich habe schon von so etwas gehört, auch wenn ich es nie selbst erlebt habe.“
„Dann ist es wirklich an der Zeit, mein lieber Markus, denn sonst kann es schnell zu spät sein. Und wo kommen wir dann hin?“
Auch Markus verstand jetzt, dass Sofia ihn aufzog. Aber das machte nichts. Eigentlich hörte sie sich spannend an, diese Sache mit den guten Manieren. Vielleicht ließ sich dabei etwas herausholen? Er würde Sofia die Führung überlassen. Ihm war schon aufgefallen, dass sie das brauchte, und er gönnte es ihr.
„Aber wie macht man das?“
„Man öffnet die Brauttruhe und fischt die Sachen heraus. Alles, was aus Stoff ist, wenigstens.“
„Brauttruhe?“
„Ja, das war eine große Kiste mit Deckel, in welcher die Braut alle die Dinge aufbewahrte, ohne die sie nicht auskam, wenn sie den Wohnsitz wechselte.“
„Den Wohnsitz wechselte?“
Markus ließ sich die Worte auf der Zunge zergehen. Worte aus alten Tagen, die jetzt rettungslos vorüber waren.
„Ja, Wäsche und Bettwäsche, Tischtücher und Servietten, die alltäglichen Dinge, die die Braut in Vorbereitung auf die Ehe gesammelt hat.“
„Aha. Ich merke, du hast alles gründlich studiert.“
„Mein Vater wusste viel über die alte Zeit, und er ist nie müde geworden, davon zu erzählen. Ich habe auch ein Buch darüber gefunden. Sehr informativ. Aber wir müssen diese Dinge ja erst suchen.“
„Wo?“
„Drüben in der Borgergade.“
„Ja?“
„Da gibt es ein Palais, das noch nicht total ausgeplündert ist. Da können wir bestimmt das Notwendige finden und das Essen werden wir dort auch irgendwie warm bekommen.“
„Das ist gleich in der Nähe.“
„Komm, gehen wir hin.“

Als sie am Palais ankamen, wurde Markus etwas unruhig. Das ganze Haus war zerstört und ein Teil war ausgebrannt. Und es war auch von Überlebenden geplündert worden, die es obendrein noch verwüstet hatten.
Das war typisch für die Wohnungen, die schöner waren als der Durchschnitt. Wenn jemand im Luxus gelebt hatte, wirkte es wie eine Provokation auf diejenigen, die überlebt hatten. Dann hatte man es mit Menschen zu tun gehabt, die den Rahm abgeschöpft hatten, solange es möglich gewesen war. Das waren Leute, die die Möglichkeiten für den eigenen Vorteil ausgenutzt und alles an sich gerafft hatten, sodass am Ende für andere nicht mehr viel übrig geblieben war. Viele dieser Menschen konnten außerdem nicht begreifen, dass daran etwas falsch war. Sie selbst erklärten es damit, dass sie wahrscheinlich klüger wären und deshalb mehr als gewöhnliche Leute verdienten, die in der Mehrzahl waren. Außerdem schufen die Begüterten auch neue Arbeitsplätze, damit Minderbemittelte sich Geld zum Unterhalt verdienen konnten. Sie waren die Säulen der Gesellschaft, und das wurde respektiert.
Andere Wohlhabende entschuldigten sich damit, dass hinter diesen Gegebenheiten eine höhere Macht stand. „Dem, dem viel gegeben, soll noch mehr gegeben werden, und wer wenig hat, dem soll auch noch das Wenige genommen werden.“ Angeblich war es ein Gott gewesen, der bestimmt hatte, dass manche Menschen besser waren als andere und dass diese herrschen und die Werte verwalten mussten, damit alles seine Ordnung fand. Daraus entstand dann die Ordnung, die sie selbst favorisierten und die automatisch dazu führte, dass sie im Laufe der Zeit mehr als andere besaßen und noch mehr Einfluss bekamen.

„Die Damasttischtücher liegen dort drinnen. Du kommst besser ran als ich.“
Markus reckte sich zu einem Fach in einem alten Mahagonischrank hinauf, der auf seiner Außenseite mit Graffiti und Axthieben verunstaltet worden war. „Seht, was ihr angerichtet habt!“, stand dort auf die Intarsientüren gesprüht. Aber im Schrank lagen immer noch schön zusammengelegte Tischtücher aus dickem Stoff mit aufgestickten Mustern.
„Nimm nur eins davon. Wir brauchen auch ein paar von den Servietten. Sie liegen daneben.“
Markus nahm auch ein paar Stoffservietten heraus.
„HR und BL?“
Ihm war das Monogramm aufgefallen.
„Henrik Rosendahl und Benedikte Lauenskiold. Mannbare Jungfrauen konnten viel Zeit darauf verwenden, Monogramme zu sticken. Sie hatten nichts anderes zu tun. Ja, vielleicht haben sie nicht einmal das selbst gemacht.“
„War das alles?“
„Nein, dann noch die Kristallgläser.“
„Wo sind die?“
„Drüben in der Vitrine.“
Die meisten der Gläser waren zerschlagen worden, aber zwischen den Scherben lagen ein paar, die die Verwüstung überlebt hatten.
„War das alles, Miss Sophie?“
Markus verbeugte sich, wie er es die Diener in den Fernsehserien früherer Tage hatte machen sehen. Sofia nahm ihre Rolle ein.
„Nein, James, wir brauchen auch den Kandelaber.“
„Kandelaber?“
„Ja, ich glaube, die irren Horden haben einen in dem Schrank dort drüben übersehen. Sicher hat er nur Silberauflage, aber in diesen Zeiten darf man es nicht zu genau nehmen.“
„Jawohl, Miss Sophie.“
Markus in Gestalt des James trat an den Schrank und fand tatsächlich den besagten Kerzenständer, in dessen Halter immer noch Reste von Kerzen steckten.
„Es sind sogar zwei, Miss Sophie.“
„Dann nimm sie beide, James. Wennschon, dennschon. Das Silberbesteck liegt drüben bei dem Buffet zum Anrichten.“
Sie trugen die Gegenstände in das angrenzende Zimmer, wo noch ein schwerer Esstisch mit gewundenen Beinen stand. In seine Oberfläche war zwar geritzt worden und man hatte auch darauf gemalt, aber das war nicht zu sehen, wenn ein Tischtuch darüber lag.
„Dann wollen wir hoffen, dass die Küche etwas Gutes bieten kann.“
„Ich werde nachsehen, ob das Küchenmädchen sich Mühe gegeben hat.“

James verbeugte sich und trug die Rucksäcke in die Küchenetage, die sich in diesem Land auf derselben Ebene befand. Es gab weder Strom noch Gas, aber er fand einen großen Eisenkessel. In ihm entzündete er auf dem alten Herd mithilfe einiger alter Untersetzer und eines Puzzles ein kleines Feuer. Er stach Löcher in die Konservendosen und stellte sie in die Flammen. Auf diese Weise wurden sie am schnellsten heiß. Er stöberte auch ein paar tiefe Teller auf und stellte sie gemeinsam mit einer Terrine, in die er die Tomatensuppe und die Fleischklöße schüttete, auf das Tablett. Auch ein Brotkorb für das Knäckebrot ließ sich finden.
Anschließend nahm er das Tablett mit in das Wohnzimmer und stellte es auf dem Tischtuch ab. Er zündete auch die Kerzen in den beiden Kandelabern an. Sofia war nicht da, aber sie rief aus dem Badezimmer.
„Sie können das Essen schon auftragen, James. Ich bin in einem Augenblick da. Ich muss mich bloß etwas frisch machen.“
„Jawohl, Euer Gnaden.“
James ging in die Küche und holte die Terrine mit der warmen Mahlzeit. Aus dem Lebensmitteldepot hatten sie eine Flasche Rotwein mitgenommen. Markus zog den Korken heraus und dekantierte den Wein. Das hätte schon ein Weilchen früher geschehen sollen, aber es musste auch so gehen. Sie würden ihn trinken, so wie er war.

Als er mit dem Tablett mit der Terrine und der Karaffe mit dem Wein hereinkam, hatte auch Sofia sich eingefunden. In dem vornehmen Kleid, das sie aufgetrieben hatte, war sie beinahe nicht wiederzuerkennen.
„Sie dürfen dann gern servieren, James.“
Das machte er mit der großen Suppenkelle, die ihm in der Küche in die Hände gefallen war.
„Sie müssen von der anderen Seite servieren, James.“
„Oh, Entschuldigung, Miss Sophie.“
„Ich sehe, Sie haben an die Grissini gedacht, James.“
„Selbstverständlich. Ich dachte, es würde zu der Suppe passen.“
„Sie haben vollkommen recht, James. Es ist höchst passend.“
„Danke, Miss Sophie.“
Markus beendete den Serviervorgang und setzte sich an die andere Seite des Tisches, wo er sich selbst aufgetan hatte. Er hob das Kristallglas.
„Auf abwesende Freunde, Miss Sophie.“
Sofia tat es ihm nach.
„Auf abwesende Freunde.“
Sie probierten von dem Essen.
„Ich hoffe, es ist zufriedenstellend, Miss Sophie.“
„Es ist ganz und gar superb. Ich weiß wirklich nicht, was wir ohne unser treues Küchenmädchen tun würden.“
„Ja, eine gute Dienerschaft ist Gold wert.“
„Fürwahr, das kann man laut sagen, Mr. Winterbottom. Heutzutage ist es ja beinahe unmöglich geworden, anständiges Personal zu bekommen.“
Also war Markus offenbar zu Mr. Winterbottom geworden. Er spielte das Rollenspiel weiter.
„So sind die Zeiten, Miss Sophie. Sie sind wirklich nicht mehr, was sie einmal waren. Ganz und gar nicht mehr.“
Sie knusperten jeder ein Grissino. Sofia spreizte den kleinen Finger.
„Ja, die Götter mögen wissen, wie alles einmal enden wird. Manchmal wird mir ganz bange wegen des miserablen Zustandes, in dem sich alles befindet. Man muss beinahe befürchten, dass die Entwicklung in eine völlig falsche Richtung geht.“
„Ich habe mir selbst ähnliche Gedanken gemacht. Man kann nur hoffen, dass die Behörden hart gegen die subversiven Elemente vorgehen, die unser gutes, etabliertes System bedrohen.“
Markus vergaß nicht, seiner Tischdame, von welcher Identität sie nun auch sein mochte, aufzuwarten.
„Noch etwas Wein?“
„Ja, bitte. Das ist ein ganz vortrefflicher Jahrgang.“
„Unbedingt, Miss Sophie, unbedingt.“
Markus alias James alias Mr. Winterbottom stieß mit der vornehmen Miss Sophie, die zu dem vornehmen Souper eingeladen hatte, an.
„Darf ich der gnädigen Frau für den ausgesuchten Geschmack mein Kompliment aussprechen? Es ist eine höchst ungewöhnliche Leistung.“
„Oh, Sie wissen doch, man muss tun, was man kann. Den Lebensmut nicht verlieren und die Formen wahren. Bald wird uns vielleicht nichts anderes mehr geblieben sein.“
„Das dürfen Sie nicht sagen, Miss Sophie. Ich bin überzeugt, dass sich schon alles zum Besten fügen wird. Dazu ist es bisher doch auch gekommen, wenn die Gesellschaft in der Krise steckte.“
„Ausgesprochen wahr, Mr. Winterbottom, ausgesprochen wahr. Aber selbst, wenn das dieses Mal nicht der Fall sein sollte, dürfen wir unser vornehmes Kulturerbe und unsere exklusive Erziehung nicht vergessen. Sie kann uns keiner nehmen.“
„Ganz meine Worte, Miss Sophie. Wir müssen bis zuletzt die Würde zeigen, die unseren Stand ausmacht. Erst wenn wir darauf verzichten, wird alles verloren sein.“
„Darauf trinken wir, Mr. Winterbottom.“
„Zum Wohl, Miss Sophie.“

Sie saßen noch einige Zeit beisammen und leerten die Terrine. Dann hatte James noch ein Extra zu bieten. Markus erhob sich.
„Mit Ihrer Erlaubnis, so würde ich gerne das Dessert holen.“
„Wir möchten Portwein zum Dessert, James.“
„Sehr gerne, Miss Sophie.“
James ging in die Küche und öffnete eine Dose Pfirsiche und eine Dose Ananas in Scheiben. Er legte einen halben Pfirsich auf eine Scheibe Ananas und sprühte etwas Schlagsahne aus einer Sprühdose um das angerichtete Obst und strich sie glatt. Es war ein Gericht, das er aus seiner Kindheit kannte. Stolz betrat er das Esszimmer und präsentierte es. Der Portwein stand geöffnet auf dem Tisch.
„Was hat das Küchenmädchen sich jetzt einfallen lassen?“
„Es nennt sich Spiegelei, aber es ist tatsächlich ein Dessert.“
Miss Sophie war hingerissen.
„Wie einfallsreich. Sehr elegant.“
„Ich werde den Portwein einschenken.“
Markus goss der Tischdame ein und ging dann um den Tisch herum auf die andere Seite, während er mit der Serviette über dem Arm und der Flasche Portwein in der Hand vorgab, so betrunken zu sein, dass er am Ende des Tisches beinahe über etwas stolperte. Miss Sophie zog vor, es zu ignorieren.
„Zum Wohl, Mr. Winterbottom.“
„Zum Wohl, Miss Sophie.“
Als sie andächtig die alten Dosenfrüchte genossen und lobpreisten, passierte es.

„Was in Allerweltsnamen geht hier vor?“
Drei unrasierte, ruppige Mannsleute zeigten sich zwischen den Türvorhängen, die das Esszimmer vom Wohnzimmer trennten. Der, der sich ganz vorn postiert hatte, hielt die Hände in die Hüften gestemmt. Er trug eine Lederjacke, die offen stand. Seine Hosen waren dunkelblaue, verschlissene Jeans, und die schwarzen Stiefel besaßen ein Muster aus Stahlniete. Quer über seine Brust spannten sich zwei Patronengürtel.
Miss Sophie hielt immer noch ihr Portweinglas erhoben in der Hand. Sie fasste sich.
„Mit welchem Recht wagen Sie es, unser Essen zu stören, guter Mann?“
Markus flüsterte ihr zu.
„Schhhh! Das Spiel ist aus, Sofia. Sprich normal.“
Der ruppige Mensch schwieg erst einen kurzen Augenblick, bevor er reagierte.
„HAHAHAHAHA!“
Markus atmete erleichtert auf. Der Anführer sprach weiter.
„Das habe ich allerdings nicht erwartet! Also, da versuchen ein paar jämmerliche Überlebende, die verlorene Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen!“
Sofia wollte nicht ohne Widerstand aufgeben.
„Vielleicht würde es ganz anders aussehen, wenn die Leute sich darum bemühen würden, sich anständig zu betragen …“
Markus hob abwehrend ein kleines bisschen die Hände, um Sofia zu dämpfen, von der er wusste, dass sie leicht übers Ziel hinausschoss, ohne die Folgen zu bedenken.
„Anständig? HAHAHAHA!“
Der Kerl trat zu ihnen und beugte sich über den Tisch. Er lächelte drohend.
„Man huldigt also den guten Manieren, wie ich sehe? Den Manieren, denen man sich bediente, wenn die Privilegierten ihre Macht stilvoll und würdig präsentieren wollten, damit die Massen das System der Klassen und die Unterdrückung akzeptieren konnten?“
Mit einem kräftigen Griff hob er ein Ende das schweren Tisches an, sodass Gläser und Besteck, Kerzenleuchter und Porzellan zu Seite flogen und am anderen Ende des Tisches auf dem Boden landeten, wo alles zerbrach. Markus gelang es gerade noch, die Flasche mit dem Portwein zu greifen.
Danach fasste der Rowdy mit fester Hand das weiße Tischtuch, das immer noch die Spuren der Falten trug, die vom Zusammenlegen zurückgeblieben waren, und riss es mit einem schnellen Ruck vom Tisch, sodass die blank polierte Mahagonioberfläche mit der neonroten Graffitibemalung zum Vorschein kam.
„So sieht die Welt aus, Leute! Und die ranghohen, bourgeoisen Schweine, die ihr versucht habt, nachzumachen, sind schuld daran, dass es so weit gekommen ist! Also das könnt ihr alles vergessen!“
Markus saß am äußersten Rand des hochlehnigen Stuhles mit der bestickten Polsterung, die sie zum Essen hingestellt hatten. Er wagte es, den Blick ein wenig zu heben und sah, dass Sofia steif auf ihrem Platz saß und wahrscheinlich die Finger um die Stuhlkante presse, sodass die Knöchel weiß wurden. Eine kleine Träne bahnte sich ihren Weg über eine Wange ihres versteinerten Gesichtes.
„Und jetzt verratet uns, wo ihr das feine Essen herhabt! In diesem Viertel hat unsere Gruppe die Macht. Und wir waren der Meinung, allen Proviant gefunden zu haben, der noch vorhanden war. Aber ihr habt offenbar Glück gehabt. Und wie eure Vorbilder hier heute Abend, habt ihr euch frech gedacht, eure Güter für euch behalten zu können! Widerlich!“

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