Mathias und der Untergang
Interview mit Freddy Milton
Geführt von Ingo Milton

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Wozu ein Buch über den Untergang der Welt?

Ich hatte gerade Jørgen Steen Nielsens Buch „Den store Omstilling“ [dt. Die große Umstellung] über die bevorstehende Kernschmelze unseres derzeitigen Gesellschaftssystems mit ihrer ständigen Forderung nach Wachstum und Verschwendung gelesen. Zuvor hatte ich mir bereits viele Dokumentarsendungen zum gleichen Thema angesehen. Das sind drastische Dinge, vor denen wir stehen. Es ist eine spannende Sache, ob die Menschheit in der Lage sein wird, für eine Verbesserung der Verhältnisse zusammenzustehen oder ob es um einen totalen Zusammenbruch mit Kriegen in der Folge gehen wird. Das wird später auch Gegenstand eines separaten Buches sein.

Du wirfst auch einen Blickwinkel auf die Verhältnisse von Kindern. Gab es für diesen Teil eine konkrete Inspiration?

Da war der „Brønderslev-Fall“, wo es um die schlechten Verhältnisse ging, unter denen Kinder leben mussten, und dann gab es da ein paar Sachen aus dem Ausland, wo Mädchen jahrelang im Geheimen in Kellern eingesperrt und missbraucht worden waren. In meinem Unterbewusstsein war deutlich abgelegt, dass ich manche dieser Verhältnisse und Konsequenzen auf eine angemessene und vernünftige Art und Weise beschreiben sollte. Das war also der Ausgangspunkt.

Weshalb wurde es dann nicht ein Buch über diese konkreten Themen?

Weil ich in meinen Büchern Icherzähler benutze. Es sind also Kinder und Jugendliche selbst, die die Geschichten erzählen, und es würde ganz einfach zu brutal und deprimierend werden, eine Geschichte zu schreiben, die zu sehr an bestimmte Sachen erinnert. Es würde auch nicht originell und überraschend werden, sondern geradezu traurig und vorhersehbar. Selbstverständlich wäre es machbar, aber ich wollte meinem Publikum trotz allem ein anregendes und positives Erlebnis verschaffen. Am liebsten ist mir, wenn meine Leser im Voraus nicht wissen, wohin alles führen wird, aber es hat ausgereicht, mich in Gang zu setzen. Die Bedingungen für Kinder sind ein wichtiges Thema, dass ich jederzeit anpacken kann, und die Sichtweisen sind zahlreich.

Warst du dir denn bewusst, wie die Geschichte sich entwickeln wird, als du mit dem Schreiben angefangen hast?

Nicht so ganz. Aber ich wusste genügend, um der Meinung zu sein, dass es mir gelingen wird, es auf befriedigende Weise zu einem Ende zu bringen. Nach und nach bekommt man für so etwas ein Gespür. Es muss unterwegs so viele Blickwinkel und Fäden geben, dass man die Geschichte ausbauen und in die Richtung kehren kann, die sich als die wahrscheinlichste, spannendste und unterhaltsamste erweist. Wenn ich spüre, dass das da ist, kann ich anfangen.

Wie kommt das Mädchen ins Spiel?

Ich wollte außer den beiden Jungen, die etwas jünger sind, gern einen Teenager im Buch haben. Im „Brønderslev-Fall“ gab es auch ein halbwüchsiges Teenagermädchen, das in die Familie des Vaters kam, nachdem es mit einer Mutter zusammengelebt hatte, mit der es sich immer zankte. Das Mädchen war der Anpfiff zum Endspiel. So ist es auch mit Louise. Sie ist sehr selbstständig und tatkräftig, und sie arbeitet sich auf ihrem Weg stur zum dem Punkt vorwärts, an dem sich die Fäden der Handlung vereinigen.

Dazu kommt es recht spät?

Ja, so kann sich eben von Buch zu Buch alles unterschiedlich entwickeln. Hierbei stellte sich heraus, dass es ein Teil des Höhepunktes wurde. Solche Sachen fügen sich allmählich, und jedes Mal ist es spannend für mich, zu erleben, auf welche Art und Weise es sich am Ende abspielen wird. Es muss doch akzeptabel und glaubwürdig sein, und ich bin der Meinung, dass meine Begründungen am Schluss stichhaltig sind.

Es sind ziemlich lebhafte Jungen, die du da hast?

Ja, das ist der Tick-Trick-und-Track-Effekt. Kinder wollen gern die Erfahrung machen, dass sie vernünftiger denken können als die Erwachsenen. An dieser Stelle besonders als alle diejenigen, die die Erde dazu gebracht haben, dass sie untergeht. Es ist leicht, altklug zu sein. Auf viele Arten ist es ja eine Fabel, die ich erzähle, und dabei können die handelnden Personen schon ein wenig karikiert sein, in dieser Situation positiv nach vorn gerichtet.

Man spürt, du hast ein gutes Verhältnis zu den beiden Brüdern im Keller.

Ich glaube, das kommt daher, weil ich auf Grundlage persönlicher Erfahrungen schreibe. In meiner Kindheit erlebte ich ein enges Verhältnis gleicher Art, und das war sehr positiv. Die Nähe erfährt auch dadurch Unterstützung, dass die beiden Brüder gezwungen sind, an einem sehr begrenzten Aufenthaltsort zu leben. Die sehr dichte Beschreibung von Personen unter beengten Verhältnissen habe ich bisher noch nicht eingesetzt.

Wieso ist es notwendig, dass Mathias Gustav so viel erzählt? Hat er denn dieselben Dinge nicht schon gehört, wenn der Vater Mathias davon erzählt hat?

Ich stütze mich auf die Logik, die ins Spiel kommt, wenn die Kinder sich längere Zeit im Keller aufhalten. Falls Gustav zu Beginn ein paar Jahre jünger gewesen ist, ist er sicherlich nicht so aufmerksam gewesen und hat so gut zugehört. Seine Reife nimmt mit dem Alter zu, und dann ist es folgerichtig, dass Mathias sich an etwas erinnert, woran Gustav sich nicht erinnern kann oder was er vergessen hat, und deshalb muss Mathias es ihm erzählen. Oder aber Gustav möchte sich gern bestätigt finden und alles noch einmal hören. Das sage ich im Übrigen auch direkt, als die beiden sich über Geburtstage und Schlagsahne unterhalten.

Dieses Mal hast du drei parallele Erzählstränge?

Der Dritte kam hinzu, also ich die beiden anderen schon entwickelt hatte. Ich war der Meinung, dass ich den Hintergrund der ganzen Geschichte darstellen sollte, und dazu habe ich die dritte Parallelhandlung benutzt. Sie verläuft nicht so kontinuierlich und über so kurze Zeit wie die beiden übrigen und sie hat keinen Icherzähler. Im Laufe der Handlung kommt es zu mehreren Sprünge und zu Wechseln der Personen, doch das trägt auch zu ein paar spannungsgeladenen Anteilen bei. Man muss ein bisschen von allem in seinen Cocktail mixen, damit verschiedene Arten von Gefühlen und Motiven beleuchtet und unterfüttert werden können. Die Logik darf auch keine offensichtlichen Löcher aufweisen, die sich nicht mit der Vorstellungsgabe der Leser füllen lassen.

Es ist das erste Mal, dass du dich eines Rachemotivs bedienst.

Dagegen hege ich irgendwie auch einen Widerwillen, aber wenn man die erzählerischen Elemente auf überzeugende Weise einsetzen kann, gibt es nicht viel, vor dem ich zurückweiche, auch nicht vor Geld, Eifersucht und Rache! Der Verweis auf „Der Graf von Monte Christo“ war nicht zufällig. Für sich gesehen könnte die Sache schon billig wirken, aber wenn das Schlussziel stark genug ist, macht das nicht viel. Die treibenden Faktoren für die Entscheidungen des Lebens sind oft ganz fundamental und banal. Und das Rachemotiv ist nur etwas, was im Hintergrund der Geschichte auftaucht, womit ich also nicht direkt spiele.

Es wirkt recht klaustrophobisch, dass ein Drittel des Buches sich mehr oder minder in einem oder in der direkten Umgebung eines geschlossenen Raumes abspielt.

Das war auch für mich neu und ich habe es mich nur getraut, weil ich wusste, dass ich diesen Teil mit anderen Handlungspfaden auf harte Art und Weise zusammenschneiden konnte. Ich bin durch einen Film, „Blast from the Past“ [dt. Titel „Eve und der letzte Gentleman“], dazu inspiriert worden. Darin bringt eine Familie 35 Jahre in einem Schutzraum zu, nachdem die Familienmitglieder zu der Auffassung gelangt waren, dass es zu einer weltweiten Katastrophe mit dem Einsatz von Atomwaffen und der Freisetzung von Radioaktivität gekommen ist. Es ist natürlich eine Behauptung, aber erzähltechnisch nimmt dieser Teil nur ein Viertel zu Beginn des Filmes ein. Man hat also bei der Dramaturgie eines Filmes auch Angst davor, zu eingeschlossen und vielleicht zu langweilig zu werden. An dieser Stelle ist mit einem Buch das Klaustrophobische, das auch andere Qualitäten haben kann, eigentlich besser handzuhaben. Seit meiner Kindheit habe ich auch eine Schwäche für unmögliche Verbrechen, die sich in verschlossenen Räumen abspielen. Der Autor John Dickson Carr war Experte für solche Art von Mysterien.

Du bedienst dich auch Motiven, die du früher nicht verwendet hast?

Ich wollte gern von der Nähe Erwachsener zu Kindern während ihres Erwachsenwerdens, oder umgekehrt, erzählen. Und wie sie gebraucht oder missbraucht werden kann und welche Konsequenzen das hat. In diesem Zusammenhang musste ich unterschiedliche Elternrollen präsentieren, also Autoritätspersonen im Erziehungsprozess, und wie das in Beziehung zur Kindesentwicklung steht. Als alter Pädagoge interessiert mich das und ich wollte verschiedene Haltungen gegenüber Kindern während des Erwachsenwerdens und zu den Kosten, die dabei entstehen, kommentieren. Und dann wollte ich gern ein gutes Verhältnis zwischen zwei Brüdern vorzeigen, die unter extremen Umständen zu verschiedenen Dingen Stellung beziehen müssen.

Wie ist das mit dem religiösen Einschlag?

Das kam irgendwie von selbst. Wenn man es geschafft hat, sich darin einzuarbeiten, wie engere Familienbeziehungen sich darstellen können, dann wirkt es auch logisch, es unter einem größeren Licht zu sehen, in welchem der Herrgott eine Art Vater ist und die gläubigen Anhänger zu Kinder werden. In „Amalie und der Schutzgeist“ habe ich es ähnlich gemacht, wo ich den ganz persönlichen Kampf des Mädchens für sein Leben in Beziehung zum Fortbestand des Lebens auf der ganzen Erde gesetzt habe. Auch, wenn in „Mathias und der Untergang“ der Blickwinkel kleiner ist, wollte ich doch den umfangreicheren Problemkomplex aufzeigen, der sich an die umklammernde und dominierende Stellung der Religion im Leben der Menschen bindet. Hierbei geht es um automatische Autoritäten, über deren Berechtigung und die Kosten, die entstehen, wenn man sich ihnen unterwirft, man lange gar nicht diskutieren konnte. Überträgt man den Mechanismus auf umklammernde Kindererziehung und zeigt eine Form von Parallelität des Großen im Bezug zum Kleinen auf, meine ich, dann war es auch eine interessante Herausforderung. Aus diesem Grund erwähne ich auch den Absurdismus, der individuelle Stellungnahmen fordert, und die Katastrophe in Jonestown, in der man die äußerst negativen Konsequenzen eines übertriebenen Vertrauens in geistliche Führer erkennen kann.

In die Strafverfolgung sind auch Behörden involviert und es gibt auch Übergriffe.

Das ist auch nicht zufällig. Im Rechtssystem haben wir eine sanktionierte bevormundende Staatsverwaltung, die auch offensichtliche Kosten und Unzulänglichkeiten billigt. Und wenn sie nicht so funktioniert, wie sie soll, sodass es in der Folge zu Ungerechtigkeiten kommt, haben wir damit wieder ein Beispiel für Repräsentanten der Obrigkeit, die ungerechtfertigterweise das Leben der Menschen steuern. Bevormundung ist eine meiner Hauptaversionen.

Diese Garnitur von Verweisen hättest du doch gut noch erweitern können?

Ja, aber man muss auch in der Lage sein, eine Grenze zu ziehen. Wie viel kann man sich erlauben, ohne dass die Handlung zu schwer und zu umfangreich wird? Das Wichtigste ist der Impuls, der in der Durchführung der Geschichte zu finden ist. Wenn die Schubkraft nachlässt, läuft man Gefahr, dass der Leser anfängt, sich zu langweilen, und das wäre das Schlimmste von allem. Als Autor ist es Hauptverpflichtung, ganz genau die notwendige Menge Brennstoff zuzuführen, um den Ofen warm zu halten. Führt man zu viel Energie zu, kocht die Suppe über oder der Brei brennt an, und das ist auch nicht gut. Das Letztere ist unter Plotschnitzern leider ziemlich verbreitet, und dann bekommt man ein Gericht vorgesetzt, das zu stark gewürzt oder nicht ordentlich durchgebraten ist. Der gute Koch kennt die richtige Dosierung. Das muss jetzt an kulinarischen Bildern genügen.

Du hast auch mehrere Takte zum Untergang dabei.

Das ist auch logisch. Wenn es um das Religiöse geht, dann gibt es da eine malerische Mythologie über den Weltuntergang, das Jüngste Gericht und das Fegefeuer mit der Läuterung der sündigen Seelen. Dass das Feuer so lustig im Leben der Menschen brennt, ist ziemlich interessant. Mit dem schlechten Gewissen ist am schwierigsten umzugehen, und wenn es speziell um die Art und Weise geht, wie man Kinder behandelt, wird es als besonders hart empfunden. Was die Bedingungen angeht, unter denen sie Leben und überleben müssen, sind Kinder doch ganz unschuldig. Und dann sind die materiellen Rahmen nicht mal besonders wichtig. Das Entscheidende ist, wie die Kinder das Engagement der Erwachsenen bezüglich des Versuchs ihre Sicherheit, ihr Heranwachsen und ihr Gedeihen zu gewährleisten, erleben. Aus verschiedenen Gründen gelingt das vielleicht nicht immer so gut, aber ganz intuitiv können Kinder das gut überblicken. Auch dieser Teil kann eine Form des Untergangs sein, aber auf engerer Ebene, und das ist wahrscheinlich die verbreitetste Form eines Zusammenbruchs. Und schließlich gibt es da den ganzen Problemkomplex mit dem Missbrauch der Ressourcen der Erde und die Gefahren, die auf diese Art unser zukünftiges Leben auf der Erde treffen können. Die Vernichtung der Erde braucht keine Atombomben, sie ist schon recht weit vorangeschritten.

Hast du alles so sehr durchdacht, wenn du deinen Text schreibst?

Überhaupt nicht. Das ist die pure nachträgliche Rechtfertigung. Das alles liegt im Unterbewusstsein. Ich ergründe fortwährend, welche Richtung die Erzählung nehmen soll, und dann kann ich mich hinterher zurücklehnen und beobachten, was ich eigentlich gemacht habe und wieso ich vielleicht die Entscheidungen getroffen habe, die ich nun eben einmal getroffen habe. Ich will nicht sagen, dass sie aus dem Rückenmark gekommen sind, aber bei den Entscheidungen, die man so trifft, kommt eine Menge Unterbewusstes ins Spiel. Eigentlich versteht man erst hinterher, dass es vielleicht einen Zusammenhang gibt, der deutlicher über allem oder der tiefer zugrunde liegt, als man während des Schreibprozesses eigentlich selbst gedacht hat.

Unterschätzt man da nicht die Bearbeitungsphase?

Nein, denn wenn man zum Schluss Dinge weglassen oder hinzufügen soll, ist es wichtig, dass sie zu den Mustern passen, die man mehr oder weniger unbewusst beim Schreiben geschaffen hat. Es hat mich jedes Mal überrascht, wie nah ich der endgültigen Fassung nach dem ersten Durchschreiben komme. Der Fluss, zum dem es während des Schreibprozesses ganz selbstverständlich gekommen ist, besitzt seine eigene Stärke, bei der man aufpassen muss, nicht zu viel daran herumzufummeln. Man läuft Gefahr, das Erlebnis von Nähe und Identifikation zu verringern, wenn man es nicht vermag, sich bei der Fertigstellung zu beherrschen. Aber ich habe den Umfang bei der Bearbeitung um circa zehn Prozent erweitert, weil ich es so eingeschätzt habe, dass die Struktur diese Erweiterung tragen kann, ohne die Schubkraft der Geschichte zu sehr zu beeinträchtigen. Alles ist eine Frage des Gleichgewichtes, angefangen beim Leben auf der Erde bis zur Komposition eines Romans.

Das geht nicht allen Autoren so …

Ich weiß, denn die Menschen sind verschieden, aber mir geht es jedenfalls so. Außerdem kann ich sagen, dass es eine gute Idee ist, das Manuskript für ein paar Monate liegen zu lassen und es sich dann wieder anzuschauen. Dann kann man es mit offeneren und nüchterneren Sinnen wahrnehmen, als es zu dem Zeitpunkt möglich war, als man es gerade fertiggestellt hatte. So geht es mir glücklicherweise mit diesen Büchern von Kindern in Krisensituationen, wo ich viele Bände Vorsprung vor der Veröffentlichung habe.

Es ist das erste Mal, dass du so viele Zitate aus anderen Quellen verwendest …

Das liegt hauptsächlich daran, weil es so viele gute Zitate zum Thema Untergang gibt. Und dann ist es ja auch nur natürlich, dass die Jungen etwas haben müssen, worauf sie ihre Zeit verwenden, wenn sie im Grunde genommen nur geduldig dasitzen und warten. Ich habe mir einige Zitate ausgesucht, die in irgendeiner Weise das Thema meiner eigenen Handlung tangieren, das versteht sich von selbst. Wenn ich mich dabei an alte klassische Geschichten gehalten habe, dann deshalb, um bei mehr Leser etwas klingeln zu lassen, als es Verweise auf modernere Quellen tun würden. Aber dieser ganze Teil der Geschichte spielt sich ja in einem eigentlich längst vergangenen Milieu ab, sodass es aus dem Zusammenhang heraus auch ganz selbstverständlich wirkt.

Die Konstruktion mit dem Überlebenskeller schließt alle moderne Kommunikationstechnik aus …

Das habe ich ganz bewusst und mit großer Befriedigung gemacht. Ich habe eine Sendereihe über eine britische Familie gesehen, die versuchte, jedes Jahrzehnt von den Siebzigern an bis heute, nachzuleben. Eine Sendung für jedes Jahrzehnt. Nach einer Woche wurde das Haus neu tapeziert und ummöbliert und die Leute bekamen andere Kleidung. Doch das Wichtigste waren all die technischen Hilfsmittel, mit denen sie schrittweise in den upgedateten Ausgaben ausgestattet wurden. Am Anfang waren die Kinder ärgerlich darüber, sich mit einem instabilen Schwarz-Weiß-Fernseher mit wenigen Kanälen, mit Transistorradios und Plattenspielern begnügen zu müssen. Dann kamen die einfachen Computerspiele für den Fernseher und die Musikanlagen und nach und nach auch tragbare, große Telefone und einzelne Computer und begrenztes Internet. Stell dir mal vor, wenn man das nicht hätte? Also habe ich das mit großem Vergnügen komplett aus meinem begrenzten Überlebensuniversum herausrasiert. Die Mutter der Familie in der Sendung machte auch einen verständlichen Stoßseufzer. Sie spürte, dass es früher, einen Monat zuvor, zum Start der Serie, in der Familie mehr Nähe und Zusammenhalt gegeben hatte, als es nämlich gemeinsame Bezüge gab. Zum Schluss saß jedes Familienmitglied in seinem Zimmer mit eigenem Fernseher, eigener Musikanlage, eigenem Computer und Handy. Äußerlich hatte sich die Kommunikation erhöht, aber das war zu Lasten der Erlebens von Zusammensein und Nähe nach innen, in der Familie, geschehen. Auch diesen Umstand mit im Buch zu haben, war für mich interessant, denn er beeinflusst die Möglichkeiten für Lenkung, Dominanz und Autoritätsausübung. Es kommen gute und schlechte Momente gleichzeitig ins Spiel. Das Letzte, was ich gerade in den Nachrichten gehört habe, war, dass die Zeit, die vor dem Fernseher verbracht wird, weniger wird. Heute haben Computer und Handys einen großen Teil unseres Zeitbedarfs übernommen. Es ist also auch eine Geschichte über den Untergang des Erlebens von Nähe in den Familien.

Wenn es um die Randregionen geht, herrscht auch Untergangsstimmung …

Das gehört mit ins Bild. Auf eine Art kann man schon auch sagen, dass der Untergang und der Zusammenbruch an den Rändern des Landes bereits stattfindet, wo den örtlichen Gemeinschaften die Krankenhäuser, Schulen und Geschäfte fehlen. Die Menschen ziehen weg, leere Häuser bleiben zurück und verfallen. Der öffentliche Verkehr wird eingeschränkt, Arbeitsplätze fallen weg und die Gesellschaft zerbröselt. Das ist auch eine sehr handgreifliche Form des Untergangs. Man braucht keine radioaktive Strahlung, um eine Gesellschaft dazuzubringen, sich aufzulösen, das geschieht die ganze Zeit über auf eine völlig gewöhnliche, banale Art und Weise.

Man könnte auch noch sagen, dass der Untergang die Eltern getroffen hat …

Ja, es ist sehr traurig, seine Kinder zu verlieren, und die Situation, dass Kinder verschwunden sind und man nicht weiß, ob man sie wiedersehen wird, belastet auf eine Art, die auch Verunsicherung beinhaltet. Wenn dann zu der Ursache des Unglücks noch Schuldkomplexe hinzukommen, ist es besonders hart. Solch eine Zeit wird auf jeden Menschen Einfluss nehmen, und in diesem Fall passiert es eben auch.

Apropos Schuldgefühle, wir erfahren nie im Detail, wie richtig Hannibal mit seiner Einschätzung liegt, die überhaupt erst zu der Racheaktion führt. In einem richtigen Krimi würde man das, und es würde einen großen Teil der Aufklärung ausmachen, wobei wirklich Schuldige zur Rechenschaft gezogen worden wären. An dieser Stelle vermutlich der Pharmadirektor.

Das ist aber kein richtiger Krimi. Und weil es in erster Linie eine Geschichte für Kinder und Jugendliche ist, halte ich mich bei dem Element der Untreue zurück. Die Aufklärung des Verbrechens ist nicht entscheidend, vielleicht eher im Gegenteil. Ich habe Fäden ausgelegt, aber es ist nicht sicher, dass sie an ihrem Ende stichhaltig sind. Das, was als ungerechtes Urteil des Systems gegen eine Person beginnt, wird vielleicht von einem ungerechtfertigten persönlichen Urteil derselben Person einer anderen Person gegenüber abgelöst. Damit ist es auch ein Kommentar zu dem Tragischen der Entwicklung, bei der eine Rache zu einer neuen Rache und immer so weiter führt. Aber wenn wir annehmen, dass der Pharmadirektor seinerzeit schuldig am Mord an dem Mitarbeiter seiner Firma ist, hat er im Verlauf der Geschichte immerhin durch schwere Gewissensqualen gegenüber dem Geschehen, das zum Verlust der Kinder führte, eine Form von Strafe erfahren.

Wie lange sind die Kinder im Keller?

Darüber habe ich auch nachgegrübelt, aber ich habe es nicht festgelegt und ich will es offen lassen. Es wird gesagt, dass Monate vergangen sind, aber vielleicht sind es sogar Jahre? Das ist etwas, was der Leser selbst entscheiden muss, und ich meine, das ist auch in Ordnung. Man darf sich auch selbst gern seiner Vorstellungsgabe bedienen.

Bei dem Wissen, das wir über das Eingesperrtsein der Kinder im Keller haben, ist es da nicht provokant, dass du das Leben dort so positiv beschreibst?

Man muss die Dinge trennen. Hier wird eine Situation beschrieben, bei der eine Familie sich in ihrem Leben durch Bedrohungen, die von außen kommen, bedroht fühlt. In solchen Fällen macht man die Erfahrung, dass die Gruppe der Familie einen erhöhten Grad des Zusammenhaltes und der Nähe gerade aufgrund der Verunsicherung empfindet. Daran ist nichts neu. Wir erleben das bei verfolgten Minderheiten und Familien auf der Flucht. Es waren genau die deutlicheren Bedrohungen der Sicherheit, die historisch betrachtet, die Entwicklung des patriarchalischen Systems mit Fürsten, Priestern und klangeführten Familien befördert haben. Erst, als der Staat soziale Sicherungsnetzwerke aufgebaut hat, hat man verstehen können, dass patriarchalische Systeme auf allen Ebenen überflüssig werden und die individuelle Freiheit sich dadurch erhöhen kann. Genau in dieser Phase befinden wir uns gerade, in verschiedenen Stadien überall auf der Welt. Natürlich ist es ein Fortschritt, aber die Vaterfigur im Keller erlebt für ihre Person eine ganz persönliche Befriedigung dabei, in ihrer eigenen kleinen Käseglocke an einem patriarchalischen System festhalten zu können. Und dann missbraucht er es ja nicht durch eine unangenehme Dominanz und Unterdrückung. Ich wollte auch gern zeigen, dass das patriarchalische System trotz allem wie so oft auf anständige und menschenfreundliche Fasson praktiziert wird.

Ich kann nicht aufhören zu sticheln. Welche Zielgruppe hat das Buch?

Es handelt von Problemen in der Familie, also ist es ein Familienbuch, das sowohl Kinder als auch Erwachsene lesen sollten. Doch bei dem derzeit herrschenden Schubladendenken stellt es an die Vermittler ja zusätzliche Anforderungen. Leider ist der Markt aufgeteilt, sodass Erwachsene keine Bücher lesen, bei denen Kinder der Zugang zur Geschichte sind, und die Vermittler sind nicht der Meinung, dass Kinder Bücher lesen können oder wollen, in denen es auch eine realistische Erwachsenensichtweise gibt. Aber das ist mein übliches Problem, bei dem meine Bücher vielleicht eine Nische für sich selbst darstellen. Wenn ich lange genug darauf bestehe, werde ich hoffentlich trotzdem für diese Art Geschichten Respekt erfahren. Ich habe jetzt zwölf Bücher geschrieben, und so nach und nach werden sie sicher herausgegeben werden, auch wenn ich am Ende ein Defizit selbst ausgleichen muss. Die zwölf Bücher schmücken und ergänzen sich auf eine gute Art und Weise, wie ich finde.

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