Kapitel 6
Questland

Brüderchen

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„Mir war eine ganze Herde Orks auf den Fersen, und zu dieser Zeit besaß ich nicht mehr genug Kraft, um mit ihnen allen fertig zu werden. Außerdem näherte ich mich der Felskante, deshalb bereitete ich mich darauf vor, meine letzten Bavadire zu sprechen.“
„Konntest du nicht einfach in den Fluss unten vor den Klippen springen?“

Wir hatten eine gute Mahlzeit gegessen, die selbst schon ein bemerkenswertes Erlebnis gewesen war. Während Skrupsak einige Vorbereitungen für den nächsten Tag traf, war geplant, dass der Knulpit und ich aufräumen sollten. Wir hatten auch ein bisschen damit angefangen, doch dann stellte Brüderchen mir ein paar Fragen, und so war ich damit beschäftigt, zu erzählen, und der Knulpit damit, zu zuhören. Er lauschte mit großer Aufmerksamkeit meinen farbigen Beschreibungen und war ein dankbares Publikum. Ich brauchte eigentlich nicht sehr zu übertreiben, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Ich wurde von einer neuen und großen Behaglichkeit erfüllt, die meine Lust weiterzuerzählen, bestärkte.

„Mund zu, Brüderchen, sonst hopst dir noch ein Fylvor hinein.“ Schnell klappte er den Mund zu, und ich machte weiter.
„Das ist ein guter Vorschlag, den du da machst, Brüderchen, denn eigentlich gab es ein Flussbett am Grunde der Schlucht, doch der Fluss fließt leider nur zur Regenzeit. Jedoch auf der gegenüberliegenden Seite breitete ein großer Askylon seine Krone über der Schlucht aus und auf meiner Seite stand ein hoher schlanker Smirgyt. Der ist zäh und biegsam und kann schnell gefällt werden. Wenn ich ihn mit meinem Schwert umhauen könnte, sodass er sich genau hinüber in die Krone des Askylons legte, ehe die Orks mich einholen konnten, würde ich eine Chance haben, in Sicherheit klettern zu können. Der Smirgyt würde niemals das Gewicht auch nur des kleinsten der Orks tragen können, wenn sie auf die Idee kämen, mir zu folgen.“
„Das war doch gut. Dann hast du also geschafft …“ Brüderchen war sichtlich erleichtert.

Er erlebte meine Beschreibung offenbar voll und ganz mit, und jetzt saß ich ja auch genau hier an einem Ende des Tischs und konnte ihm versichern, dass ich der Flucht glücklich entkommen war.

„Nein, Brüderchen. Die Orks holten mich ein und machten mich fertig. Ich starb.“ Jetzt klappte dem armen Brüderchen abermals der Unterkiefer herunter.
„Du bist gestorben? Ha, nein! Jetzt foppst du mich aber!”

Brüderchen amüsierte sich köstlich. Es war doch ganz unglaublich, dass ich gestorben war, wenn ich ganz wirklich hier vor den Resten des Abendessens saß und ihm die ganze Geschichte erzählte.
Er bekam wohl auch das Gefühl, dass ich, jetzt jedenfalls, meine Vorstellung übertrieb. Ein Gefühl, das zu haben, sich von selbst verstand.

„Ja, also abgemacht. Man stirbt auch nie ganz auf unseren Feldzügen. Das tut man nur, wenn man lange Zeit untätig ist und ganz dahinsiecht. Ich meine nur, ich verlor fast alles Leben nach der Begegnung mit der zahlenmäßig überlegenen Schar Orks. Es war nicht mehr viel Leben in mir, als meine Gefährten mich fanden und mich unter großen Mühen zum Druiden Golgamak schleppten. Er braute eine Mixtur für mich, damit ich mich wieder erholen konnte. Glücklicherweise besaß ich das Rezept der Seherin Orgeuil für den Trank, und das hatte viel Geld gekostet. Wenn man in zahllosen Missionen eine Menge Erfahrungen gemacht hat, lernt man, vorbereitet zu sein, und das Rezept habe ich für alle Fälle immer bei mir. Alles andere wäre leichtsinnig, wenn man sich tief in gefährliche Gebiete wie Durgamor wagt.
„Soll das heißen, du hast das Rezept jetzt gerade hier?“
„Es ist jetzt doch lange her, dass ich in Durgamor war.“
Brüderchen war recht schlau. Es sollte eigentlich gut dort zurechtkommen, wo ich herkam. Vielleicht nicht als Krieger, doch als Knappe, Page oder Schüler von dieser Art. Erfolg würde es sicher schnell haben.
„Ha! Ich würde dir ja höllisch gern glauben, Aciel, denn du erzählst so schön, doch du bist so ungezügelt! Wenn ich Geschichten ausdenke, dann passe ich dabei immer auf, dass ich nicht auf dem falschen Fuß erwischt werde!“

Es führte kein Weg daran vorbei. Ich griff unter das Wams, wo ich auch Holbors Beschwörungen gegen Galmors Wandlungsflüche und Skardyks Anweisungen zur Abwehr von Gordals Lähmungen und Sagomels Krämpfen aufbewahre. Ich zog das Rezept hervor und faltete es vorsichtig auseinander.
Es war aus gegerbter Ygdra-Haut aus Solvenien gemacht, dort wo die größten Ygdras leben.

„Gib acht, denn es ist ein schönes Exemplar gewesen, und es ist sehr kostbar. Jetzt ist es selbstverständlich ziemlich abgenutzt. Das lässt sich nicht vermeiden, wenn man die ganze Zeit damit herumläuft.“

Es war kurz davor, dass dem kleinen Ynkryg, der am Tischende saß, die Augen aus dem Kopf fielen. Ich musste die Reste der flachen, knochentrockenen Brotrinde, die sie wohl „Pittsa“ nannten, zur Seite fegen, damit ich das Rezept ganz auseinander falten konnte.

„Ich kann selbst nicht alles verstehen, denn dazu braucht es einen kundigen Zaubertrankbereiter oder Medizinmann. Besonders was die Ziehzeiten und Wärmegrade der einzelnen Bestandteile angeht. Doch es ist auf jeden Fall Fumgur darin und Salvak. Ganz unten haben wir Bromkyl und Samulena. Das sind die wichtigsten der Bestandteile.“
„Was … Was für Zeug?“

Ich weidete mich daran, wieder die volle Aufmerksamkeit des Knulpits zu haben. Ich konnte geradezu seine Beschämung darüber spüren, dass er sich erlaubt hatte, an meiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Wenn ich wollte, konnte ich ihm nun weismachen, was immer mir gefiel. Das war jedoch keineswegs notwendig. Fast alles, was ich berichtete, ergriff ihn ganz und gar, ohne, dass ich es weiter auszuschmücken brauchte.

„Siehst du, Fumgur ist eine Art Moos, das überall wächst. Es muss nur zu einer ganz bestimmten Zeit des Jahres gesammelt werden, doch alle Druiden und Salbenmischer haben es immer im Hause. Das Salvak ist auch recht bekannt, besonders, wenn du in den nordöstlichen Regionen unterwegs bist. Es ist eine Art Schilf, das an kleinen Seen mit stehendem Wasser zu finden ist. Bromkyl ist die Asche aus den kleinen Vulkanen, die man in Nyrgakim findet, und die man ohne großes Risiko im Herbst holen kann, wenn die Wasserläufe stets überquert werden können. Doch das Samulena ist kostbar. Es ist Blütenstaub von der Art Mistabel, das nur in jedem siebten Jahr in einer abgelegenen Region von Kantibar blüht, und dann muss auch der Sommer richtig warm gewesen sein. Und das sind die Sommer selten in Kantibar.“

Brüderchen fühlte hier innig mit mir, daran gab es keinerlei Zweifel. Die Begeisterung leuchtete in seinen Augen. Man stelle sich nur vor, dass man etwas brauchte, was das mühevolle Einsammeln seltenen Blütenstaubs aus einer unwirtlichen Region Kantibars verlangte.

„Wie teuer war das Rezept?“
„Ja, als wir von der Burg der Kryopter in Laramir mit der Hälfte des Schatzes von Burnos zurückkamen und außerdem die Belohnung für die Rettung der Prinzessin Marguerite bekamen …“
„Margrethe?“
„Ja, kennst du sie? Du siehst ein bisschen skeptisch aus? Sie war wirklich schön, und ja, das ist sie auch gewiss noch immer, und ihr Vater war kreuzglücklich darüber, sie in guter Verfassung wiederzusehen. Sie war absolut einen oder zwei Feldzüge wert.“
„Hm, ja, so. Mach‘ weiter.“
„Also, ich verwendete natürlich eine Menge des Schatzes auf die Vorbereitung meiner Ausrüstung und Bewaffnung, und da ich wusste, wie schlimm es anderen ergangen war, die nicht Orgeuils heilendes Rezept kannten, wollte ich mich gern für die Zukunft absichern. Und dann waren da außerdem die Mittel, um einen Monat bei dem Guru in Bamlor zu verbringen.“
„Wie hieß er?“
„Wie er hieß? Äh … Rastaban …“
„Rastaban? Ganz ehrlich, das klingt nicht nach einem Guru … Das ist der Name für einen … einen … Wegelagerer …“
„Wirklich? Sag mir, weißt du vielleicht mehr über diese Dinge als ich selbst?”
„Nein, nein, nichts für ungut … Was wolltest du bei ihm?“
„Er lehrte mich, Flüchen und dem bösen Blick zu widerstehen. Eine Art Salmir-Meditation, doch mir besonderen Körperübungen.“
„Kannst du schweben?“
„Ob ich schweben kann? Sag mir, kleiner Knulpit, sehe ich aus wie einer, der schweben kann, was?“
„Nein, ich dachte ja auch nur … aber einige Gurus können das einfach … das mit dem Schweben … wenn sie sich ganz doll konzentrieren … deshalb dachte ich … vielleicht hast du es gelernt … auch …“
„Hör mal zu, mein lieber Freund! Ich bin Krieger, zuallererst einmal! Ich habe da gewisse andere Fertigkeiten lernen müssen, um zurechtzukommen, ja, ich gehöre praktisch zu den Besten, wenn ich das selbst so sagen darf. Wenn auch weiter nichts, so beweisen meine Leistungen doch, dass ich mich fast überall zu benehmen weiß, selbst dort, wo Gefahr droht. Doch schweben, das kann ich nicht. Und wollte ich es lernen, würde es sicher einen großen Teil meines Lebens dauern, und dann würde ich nicht länger Ritter sein. Und das ziehe ich dann doch vor. Für mich gibt es nichts Besseres, als einen gefährlichen Feldzug und eine bedrohliche Begegnung mit Orks oder Growlern, jedenfalls, wenn man gut vorbereitet ist.“

Jetzt hatte ich mich sicher zu sehr erregt. Es passiert leider manchmal, dass ich die Beherrschung verliere. Das ist mich schon teuer zu stehen gekommen, doch in anderen Situationen ist es auch von Nutzen gewesen. Es fehlte nicht viel und der Knulpit hätte mit Tränen in den Augen vor mir gesessen. Er wollte mich ja nicht runtermachen, in keiner Weise. Da ich offenbar aber so viel konnte, wollte er selbstverständlich erfahren, ob ich auch schweben könnte. Hätte ich gesagt, dass ich es könnte, würde er es natürlich gern gesehen haben wollen. So sind Knulpits ja. Und hätte ich behauptet, dass ich Feuer speien oder auf dem Wasser laufen könnte, würde er das auch als etwas ganz Selbstverständliches betrachtet haben. Ich musste versuchen, mich zu beherrschen. Aber ich habe nie zuvor Zeit mit einem Knirps seines Alters verbracht, also musste ich mit diesen neuen Dingen zurechtkommen. Doch er war es wert.

„Was, zum Geier, sitzt ihr noch immer hier und stochert in den Zähnen? Ich dachte, ihr hättet den Tisch abgeräumt? Könnt ihr dann zusehen, dass ihr einen Zahn zulegt! Es ist doch schon spät geworden, und du solltest längst im Bett sein, Brüderchen, besonders nach einem Tag wie heute, wo du bis auf die Sockenhalter kaputt sein müsstest, so wie du im Tal umhergesaust bist.“
„Ich bin kein bisschen nicht müde, und ich brauche doch morgen auch nicht zeitig aufzustehen.“
„Musst du nicht? Nee, nein, das stimmt ja auch wieder! Die Lehrer haben ja morgen diese Arbeitsniederlegung als Reaktion auf die Haushaltsfestsetzung. Das habe ich doch wirklich völlig vergessen. Das ist schlecht! Was machen wir denn da? Ich kann dich ja nicht allein zu Hause lassen.”
„Ich bin doch auch nicht allein zu Hause. Aciel ist doch hier …“
„Aciel? Ach ja, er ist ja auch da. Aber das geht nicht. Ein Kerl, der sein Gedächtnis verloren hat. Das wird das Amt mir vorwerfen, wenn es herauskommt.“
„Er braucht doch kein Gedächtnis, um auf mich aufzupassen. Ich kenne die Stadt und er hat die Muskeln, um mich zu verteidigen. Wir sind ein ausgezeichnetes Team.“

Der Knulpit war nicht ohne Talent. Er würde sich bestimmt aus jeder Situation herausreden können, wenn man sich ein wenig um ihn kümmerte. Ohne Zweifel bekam er bestimmt schon jetzt oftmals seinen Willen.
Doch, dass ich als ein notwendiger Fleischberg zur Sicherung seiner scharfsinnigen Existenz betrachtet wurde, war für einen wohlangesehenen Ritter wie mich, schwer zu schlucken. Doch es sollte recht sein. Ich war hier nicht zu Hause. Vieles lief mir zurzeit zuwider. Damit hatte ich mich abzufinden, so wie die Dinge lagen.

„Siehst du, das hier ist das Zimmer von unserem Schwesterherz. Es ist völlig in Ordnung, wenn du eine Zeit lang hier übernachtest. Wir haben sie die letzten paar Monate nicht gesehen, und sollte sie plötzlich auftauchen, dann muss sie sich damit abfinden, dass in der Zwischenzeit jemand ihr Zimmer benutzt.“

Ich war in einen kleinen Raum mit einer bequem aussehenden Bettstatt gekommen. Am Fenster gab es einen kleinen Tisch mit einem zerbrechlichen Stuhl und in der Ecke stand ein Schrank. Es gab auch ein Möbel aus Regalbrettern mit verschiedenen Kleinigkeiten darauf. Alles war genau und ordentlich gestaltet und ohne Schnitzereien oder Verzierungen, wie anderes, das ich gesehen hatte. Ich schaute mir ein kleines Bild auf dem obersten Regalbrett an. Es war kein Gemälde, doch es glich unbestreitbar einer schönen, jungen Jarmir.

„Also ist deine Tochter verreist?“
„Weg und verreist. Ich habe erfahren, dass sie ihre Zeit bei irgendeiner Sekte verbringt, die in der ersten Phase erwartet, dass neue Mitglieder den Kontakt zur Familie einschränken, falls die nicht auch in der Sekte ist. Und das sind wir jedenfalls nicht.“
„Bist du damit einverstanden? Sie sieht eigentlich nicht so aus, als wäre sie schon erwachsen, wenn das Porträt ihr gerecht wird?“
„Nein, aber hier in unserer Gesellschaft ist es nicht immer leicht für Eltern, über ihre Kinder zu bestimmen. In einem Jahr hat sie sowieso das Recht, für sich selbst zu entscheiden. Dann ist sie volljährig. Ja, so ist das hier jedenfalls. Ich bin auch nicht froh darüber, aber ich habe Angst davor, Schlechtes schlimmer zu machen, wenn ich es hart auf hart kommen lasse. Und Mädchen in ihrem Alter können verdammt geltungsbedürftig sein.“

Skrupsak schluckte. Es war deutlich, dass ihn tief beunruhigte, was seine Tochter auf eigene Faust unternahm. In meinem Heimatland war ein solches Betragen undenkbar. Es würde für eine Jarmir völlig unmöglich sein, unbeschützt fern der Heimat zu leben. Doch darum kümmerte sich vielleicht die Sekte. Es gab viele neue Dinge zu lernen.

Der erste Tag war überraschend gut verlaufen. Seelenruhig fiel ich in dem ganz unbeschreiblich bequemen Bett in Schlaf. Wie seltsam es auch klingen mag, so war es doch lange her, dass ich so gut schlief.

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