Kapitel 6 Brüderchen „Mir war eine ganze Herde Orks auf den Fersen, und zu dieser Zeit besaß ich nicht mehr genug Kraft, um mit ihnen allen fertig zu werden. Außerdem näherte ich mich der Felskante, deshalb bereitete ich mich darauf vor, meine letzten Bavadire zu sprechen.“ Wir hatten eine gute Mahlzeit gegessen, die selbst schon ein bemerkenswertes Erlebnis gewesen war. Während Skrupsak einige Vorbereitungen für den nächsten Tag traf, war geplant, dass der Knulpit und ich aufräumen sollten. Wir hatten auch ein bisschen damit angefangen, doch dann stellte Brüderchen mir ein paar Fragen, und so war ich damit beschäftigt, zu erzählen, und der Knulpit damit, zu zuhören. Er lauschte mit großer Aufmerksamkeit meinen farbigen Beschreibungen und war ein dankbares Publikum. Ich brauchte eigentlich nicht sehr zu übertreiben, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. Ich wurde von einer neuen und großen Behaglichkeit erfüllt, die meine Lust weiterzuerzählen, bestärkte. „Mund zu, Brüderchen, sonst hopst dir noch ein Fylvor hinein.“ Schnell klappte er den Mund zu, und ich machte weiter. Er erlebte meine Beschreibung offenbar voll und ganz mit, und jetzt saß ich ja auch genau hier an einem Ende des Tischs und konnte ihm versichern, dass ich der Flucht glücklich entkommen war. „Nein, Brüderchen. Die Orks holten mich ein und machten mich fertig. Ich starb.“ Jetzt klappte dem armen Brüderchen abermals der Unterkiefer herunter. Brüderchen amüsierte sich köstlich. Es war doch ganz unglaublich, dass ich gestorben war, wenn ich ganz wirklich hier vor den Resten des Abendessens saß und ihm die ganze Geschichte erzählte. „Ja, also abgemacht. Man stirbt auch nie ganz auf unseren Feldzügen. Das tut man nur, wenn man lange Zeit untätig ist und ganz dahinsiecht. Ich meine nur, ich verlor fast alles Leben nach der Begegnung mit der zahlenmäßig überlegenen Schar Orks. Es war nicht mehr viel Leben in mir, als meine Gefährten mich fanden und mich unter großen Mühen zum Druiden Golgamak schleppten. Er braute eine Mixtur für mich, damit ich mich wieder erholen konnte. Glücklicherweise besaß ich das Rezept der Seherin Orgeuil für den Trank, und das hatte viel Geld gekostet. Wenn man in zahllosen Missionen eine Menge Erfahrungen gemacht hat, lernt man, vorbereitet zu sein, und das Rezept habe ich für alle Fälle immer bei mir. Alles andere wäre leichtsinnig, wenn man sich tief in gefährliche Gebiete wie Durgamor wagt. Es führte kein Weg daran vorbei.
Ich griff unter das Wams, wo ich auch Holbors Beschwörungen gegen Galmors Wandlungsflüche und Skardyks Anweisungen zur Abwehr von Gordals Lähmungen und Sagomels Krämpfen aufbewahre. Ich zog das Rezept hervor und faltete es vorsichtig auseinander. „Gib acht, denn es ist ein schönes Exemplar gewesen, und es ist sehr kostbar. Jetzt ist es selbstverständlich ziemlich abgenutzt. Das lässt sich nicht vermeiden, wenn man die ganze Zeit damit herumläuft.“ Es war kurz davor, dass dem kleinen Ynkryg, der am Tischende saß, die Augen aus dem Kopf fielen. Ich musste die Reste der flachen, knochentrockenen Brotrinde, die sie wohl „Pittsa“ nannten, zur Seite fegen, damit ich das Rezept ganz auseinander falten konnte. „Ich kann selbst nicht alles verstehen, denn dazu braucht es einen kundigen Zaubertrankbereiter oder Medizinmann. Besonders was die Ziehzeiten und Wärmegrade der einzelnen Bestandteile angeht. Doch es ist auf jeden Fall Fumgur darin und Salvak. Ganz unten haben wir Bromkyl und Samulena. Das sind die wichtigsten der Bestandteile.“ Ich weidete mich daran, wieder die volle Aufmerksamkeit des Knulpits zu haben. Ich konnte geradezu seine Beschämung darüber spüren, dass er sich erlaubt hatte, an meiner Ehrlichkeit zu zweifeln. Wenn ich wollte, konnte ich ihm nun weismachen, was immer mir gefiel. Das war jedoch keineswegs notwendig. Fast alles, was ich berichtete, ergriff ihn ganz und gar, ohne, dass ich es weiter auszuschmücken brauchte. „Siehst du, Fumgur ist eine Art Moos, das überall wächst. Es muss nur zu einer ganz bestimmten Zeit des Jahres gesammelt werden, doch alle Druiden und Salbenmischer haben es immer im Hause. Das Salvak ist auch recht bekannt, besonders, wenn du in den nordöstlichen Regionen unterwegs bist. Es ist eine Art Schilf, das an kleinen Seen mit stehendem Wasser zu finden ist. Bromkyl ist die Asche aus den kleinen Vulkanen, die man in Nyrgakim findet, und die man ohne großes Risiko im Herbst holen kann, wenn die Wasserläufe stets überquert werden können. Doch das Samulena ist kostbar. Es ist Blütenstaub von der Art Mistabel, das nur in jedem siebten Jahr in einer abgelegenen Region von Kantibar blüht, und dann muss auch der Sommer richtig warm gewesen sein. Und das sind die Sommer selten in Kantibar.“ Brüderchen fühlte hier innig mit mir, daran gab es keinerlei Zweifel. Die Begeisterung leuchtete in seinen Augen. Man stelle sich nur vor, dass man etwas brauchte, was das mühevolle Einsammeln seltenen Blütenstaubs aus einer unwirtlichen Region Kantibars verlangte. „Wie teuer war das Rezept?“ Jetzt hatte ich mich sicher zu sehr erregt. Es passiert leider manchmal, dass ich die Beherrschung verliere. Das ist mich schon teuer zu stehen gekommen, doch in anderen Situationen ist es auch von Nutzen gewesen. Es fehlte nicht viel und der Knulpit hätte mit Tränen in den Augen vor mir gesessen. Er wollte mich ja nicht runtermachen, in keiner Weise. Da ich offenbar aber so viel konnte, wollte er selbstverständlich erfahren, ob ich auch schweben könnte. Hätte ich gesagt, dass ich es könnte, würde er es natürlich gern gesehen haben wollen. So sind Knulpits ja. Und hätte ich behauptet, dass ich Feuer speien oder auf dem Wasser laufen könnte, würde er das auch als etwas ganz Selbstverständliches betrachtet haben. Ich musste versuchen, mich zu beherrschen. Aber ich habe nie zuvor Zeit mit einem Knirps seines Alters verbracht, also musste ich mit diesen neuen Dingen zurechtkommen. Doch er war es wert. „Was, zum Geier, sitzt ihr noch immer hier und stochert in den Zähnen? Ich dachte, ihr hättet den Tisch abgeräumt? Könnt ihr dann zusehen, dass ihr einen Zahn zulegt! Es ist doch schon spät geworden, und du solltest längst im Bett sein, Brüderchen, besonders nach einem Tag wie heute, wo du bis auf die Sockenhalter kaputt sein müsstest, so wie du im Tal umhergesaust bist.“ Der Knulpit war nicht ohne Talent. Er würde sich bestimmt aus jeder Situation herausreden können, wenn man sich ein wenig um ihn kümmerte. Ohne Zweifel bekam er bestimmt schon jetzt oftmals seinen Willen. „Siehst du, das hier ist das Zimmer von unserem Schwesterherz. Es ist völlig in Ordnung, wenn du eine Zeit lang hier übernachtest. Wir haben sie die letzten paar Monate nicht gesehen, und sollte sie plötzlich auftauchen, dann muss sie sich damit abfinden, dass in der Zwischenzeit jemand ihr Zimmer benutzt.“ Ich war in einen kleinen Raum mit einer bequem aussehenden Bettstatt gekommen. Am Fenster gab es einen kleinen Tisch mit einem zerbrechlichen Stuhl und in der Ecke stand ein Schrank. Es gab auch ein Möbel aus Regalbrettern mit verschiedenen Kleinigkeiten darauf. Alles war genau und ordentlich gestaltet und ohne Schnitzereien oder Verzierungen, wie anderes, das ich gesehen hatte. Ich schaute mir ein kleines Bild auf dem obersten Regalbrett an. Es war kein Gemälde, doch es glich unbestreitbar einer schönen, jungen Jarmir. „Also ist deine Tochter verreist?“ Skrupsak schluckte. Es war deutlich, dass ihn tief beunruhigte, was seine Tochter auf eigene Faust unternahm. In meinem Heimatland war ein solches Betragen undenkbar. Es würde für eine Jarmir völlig unmöglich sein, unbeschützt fern der Heimat zu leben. Doch darum kümmerte sich vielleicht die Sekte. Es gab viele neue Dinge zu lernen. Der erste Tag war überraschend gut verlaufen. Seelenruhig fiel ich in dem ganz unbeschreiblich bequemen Bett in Schlaf. Wie seltsam es auch klingen mag, so war es doch lange her, dass ich so gut schlief. |