Kapitel 13
Randi Unrast
Der Südhafen
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„Falls du mich auf dem Handy nicht mehr erreichen kannst, dann öffne den Umschlag.“
Mit dieser Bemerkung hatte Randi mir einen Brief übergeben, und wenn ich nicht weiter gefragt hätte, würde ich von ihr bestimmt auch nicht mehr erfahren haben, aber ich war neugierig geworden.
„Was treibst du denn jetzt wieder?“
„Das ist doch egal. Es ist wahrscheinlich das Beste, wenn du in nichts verwickelt wirst, andererseits werde ich vielleicht deine Hilfe brauchen können. Deswegen einfach nur so zur Sicherheit der Brief …“
Ich steckte den Umschlag also ein und rief sie in regelmäßigen Abständen an. Dann erhielt ich von ihr jeweils nur eine kurze Nachricht darüber, dass alles in Ordnung war, ich mich aber auf Stand-by halten sollte.
Nach zwei Tagen verlor ich die Fühlung zu ihr. Es war natürlich möglich, dass der Akku ihres Handys leer war, als ich aber mehrmals vergeblich angerufen hatte, tat ich, worum Randi mich gebeten hatte. Ich öffnete den Umschlag.
Das Einzige, was der Brief enthielt, war ein Stück Papier mit einem Namen und einer Adresse. So wie ich es beurteilen konnte, befand sich der Ort im Südhafen. Ich ärgerte mich ein bisschen. Sie hätte schon etwas detaillierter sein können, aber vielleicht hatte sie selbst auch nicht mehr gewusst. Also sollte ich wohl besser zusehen, dass ich mich auf den Weg machte, denn mehr oder weniger hatte ich ihr das ja versprochen. Jedenfalls hatte ich ihr nicht abgesagt, als sie sich mit ihrer Bitte an mich gewandt hatte.
Die Dämmerung machte sich breit, als ich den Ort im Südhafen erreichte, der auf dem Stück Papier genannt war. Es schien sich um ein stillgelegtes Areal des Hafens zu handeln, das darauf wartete, aufgefüllt und zur Wohnbebauung umgestaltet zu werden. Teure Wohnhäuser mit kostspieligen Eigentumswohnungen mit Aussicht auf das Wasser. Mit einem der Projekte hatte man begonnen, doch das Auffüllen des Hafenbeckens war nur gerade so in Angriff genommen worden. Ein Konjunkturumschwung hatte die Investitionen für einige Zeit gestoppt. Viele andernorts errichtete Wohnungen gleichen Baustils standen leer, weil es keiner mehr wagte, sich finanziell solch großen Ausgaben zu stellen.
Ich hatte gehofft, dass die Adresse leichter zu finden gewesen wäre. Viele Schilder lagen schon auf der Erde, weil das Gelände völlig verlassen dalag und nur darauf wartete, dass die Zeiten sich besserten. Eigentlich war das ganze Areal eine einzige große Baustelle.
Mehr als eine Stunde lang lief ich vergebens in dem alten Hafengelände umher und ich begegnete dabei niemandem, den ich hätte fragen können, und das war vielleicht auch besser so. Randi konnte ein großes Wagnis eingegangen sein, was vielleicht der Grund dafür gewesen war, dass sie mich anfangs auch nicht hatte dabeihaben wollen.
Ich war kurz davor, aufzugeben, als ich ein altes Frachtschiff ausmachte, das vertäut in der Nähe eines Lastkrans lag, der früher einmal die Kohle für ein Depot am Kai verladen und gelöscht hatte. Es war viele Jahre her, dass er in Gebrauch gewesen war, und er stand sicherlich auch nur noch dort und wartete auf die Erschließung und Beräumung des Gebietes.
Ich konnte die Verhältnisse nicht deutlich erkennen, aber der alte Zaun, der den Bereich umgab, hatte mehrere Löcher und ich schlüpfte vorsichtig durch eins hindurch und schlich mich auf das Gelände. Also das war die Erklärung. „Janus 2“ aus dem Brief war keine Adresse gewesen, es war der Name eines Frachtschiffes. Die Buchstaben schälten sich schon vom Steven, aber es gab keinen Zweifel daran, dass ich an meinem Ziel angekommen war.
Doch was nun? Sollte ich warten, oder was? Ich entschied mich dafür, auszuharren und den weiteren Verlauf der Dinge abzuwarten. Ich hatte das Gefühl, mich in ein riskantes Unternehmen gewagt zu haben, exakt das, was Randi hatte vermeiden wollen. Doch wenn ich mich weiter vorwagen sollte, wäre es sicherlich besser, wenn es erst noch etwas dunkler wurde. Ich versteckte mich hinter alten Tonnen und Paletten, von wo aus es mir erlaubt war, das Gelände zu beobachten.
Ich versuchte noch einmal, Randi anzurufen, doch noch immer vergebens. Wenn es bei dieser Sache um etwas Illegales ging, wäre es bestimmt besser, die Polizei zu alarmieren, was dann aber auch Randi selbst hätte tun können, und sie hatte sich dafür entschieden, es zu unterlassen. Wenn ich Alarm schlug, würde ich womöglich gegen etwas arbeiten, das Randi geplant hatte. Ich entschloss mich, den Anruf bei der Polizei aufzuschieben.
Nach einer Stunde Warten schlich ich mich näher heran. Der alte Asphalt am Kai hatte große Löcher und sie waren immer noch mit dem Wasser der Regenschauer der letzten Nacht gefüllt. Schnell war ich an dem schmalen, steilen Laufsteg, der zur Reling des Schiffes hinaufführte. Licht war nicht zu erkennen, aber natürlich konnte es irgendwo auf dem Schiff Lampen geben, die brannten, die für mich nur nicht zu sehen waren. Die alten Laternen am Kai waren erloschen, was auch weiter nicht verwunderlich war. Die Elektrizitätsversorgung auf diesem Teil des Geländes war bestimmt abgesperrt und der Stromverteiler, den ich auf der verödeten Baustelle gesehen hatte, war sicherlich nur mit den vorläufigen Installationen verbunden, die man für den Baubetrieb benötigte.
Ich schlüpfte ungesehen den Laufsteg hinauf und stand einen Augenblick später auf dem Deck des Schiffes. Weder Licht noch Geräusche enthüllten, dass sich Menschen an Bord befanden. Aber vielleicht war es auch verkehrt, dass ich mich hier zeigte, oder konnte es womöglich bereits zu spät sein? Aber zu spät, wofür?
Behutsam schlich ich mich zu einer Tür, die angelehnt stand. Ich musste sie ein wenig weiter öffnen, um mich hindurchzwängen zu können. Von den rostigen Angeln kam ein quietschendes Pfeifen. Glücklicherweise war es schnell vorbei und ich bemerkte keine Reaktion auf das Geräusch.
Eine schmale und steile Leiter führte in das Innere des Schiffes hinunter. Das schwächliche Geländer hatte sich gelockert, aber die Stufen schienen ausreichend sicher. Der helle Farbanstrich war überall von Rostflecken durchdrungen. Es musste eine sehr tolerante Schiffsaufsicht sein, die die Registrierung dieses Fahrzeuges weiterlaufen ließ.
Am Fuße der Treppe ging zu beiden Seiten ein schmaler Korridor ab. Ich holte die Taschenlampe hervor, die ich vorausschauend mitgenommen hatte. Noch immer konnte ich keine verdächtigen Geräusche hören. Das Einzige, was die Stille durchbrach, war der Klang eines Gegenstandes, der in gleichmäßigen Abständen irgendwo gegen Metall schlug. Aber das war auch ganz plausibel, da das Schiff sich beständig im Wasser bewegte. Dann hörte ich noch an einer Stelle etwas heruntertropfen, aber auch das war absolut zu erwarten gewesen, besonders auf einem so verschlissenen alten Frachter.
Weil ich keine Stimmen oder etwas anderes hören konnte, das auf Leben an Bord schließen ließ, begann ich schon anzunehmen, vergebens gekommen zu sein, doch dann kam mir eine Idee. Ich begann den Anfang von „Pomp and Circumstance“ zu pfeifen. Es war eine Melodie, die Randi früher einmal auf ihrem Handy benutzt hatte.
Niemand schien sich um mein Pfeifen zu kümmern, deshalb pfiff ich es lauter, und als ich einen Augenblick innehielt und lauschte, meinte ich irgendwo aus dem Schiff ein Klopfen zu vernehmen.
Ich folgte dem Geräusch, und ich musste offenbar tiefer in den Frachtraum hinein. Ich fand eine Metallleiter, die zu Räumen, die tiefer unten im Schiff lagen, führte, und es kam mir vor, als würde das klopfende Geräusch stärker. Dann stolperte ich über irgendetwas. Ich fiel der Länge nach hin und verlor meine Taschenlampe, die zu einem Lenzabfluss rollte.
Als ich mich erhob, fühlte ich, dass ich mir das Knie angeschlagen hatte, aber es war sicher nichts Ernstes und zum Glück leuchtete auch die Taschenlampe noch.
Ich pfiff weiter und konnte das Klopfgeräusch dann deutlich vernehmen.
„Randi, bist du das?“
„Ja, ich bin hier drüben!“
Im selben Augenblick stand ich schon an einer geschlossenen Metalltür. Hinter dieser war das Klopfen nun ganz deutlich zu hören.
„Ja, ja, du brauchst jetzt nicht mehr zu klopfen!“
Ich drehte den Schlüssel um und öffnete die Tür. Randi war erleichtert.
„Puh! Das wurde Zeit … Ich hätte nur ungern gewollt, dass jemand anderer gekommen wäre.“
„Ein Glück, dass sie den Schlüssel stecken gelassen haben.“
„Der lässt sich nicht abziehen, sonst hätten sie es sicherlich gemacht.“
Ich hätte sie in diesem Moment gern gefragt, ob sie sich freute, mich zu sehen, aber ich wollte ihr keine Ungelegenheiten bereiten, indem ich sie in eine Lage brachte, in der sie hätte positive Gefühle zeigen müssen, geschweige denn Dankbarkeit. Es war trotzdem so offenkundig zu erkennen, dass es nicht kommentiert zu werden brauchte. Da waren dann auch noch andere Dinge, über die ich lieber etwas erfahren wollte.
„Von wem sprichst du?“
Sie schaute zu mir hoch.
„Hast du was Essbares?“
„Ja, daran habe ich tatsächlich gedacht.“
Ich holte eine Packung Kekse aus der Jackentasche. Eine Flasche Limo hatte ich auch dabei. Sie griff nach den Keksen und knabberte sich schnell durch ein paar hindurch und spülte mit Limo nach. Sonst bevorzugte sie eigentlich gewöhnliches Wasser, aber im Moment nahm sie es nicht so genau. Was das Problem mit der Kommunikation anging, kam sie mir zuvor.
„Mit meinem Handy ist alles in Ordnung, hier im Frachtraum gibt es nur kein Netz. Die Männer gehören nicht zu den Klügsten, deshalb haben sie mich nicht einmal durchsucht, ob ich eins dabeihabe.“
„Wo sind sie jetzt?“
„Das weiß ich nicht, aber sie könnten jederzeit zurückkommen, deshalb denke ich, wir sollten nicht länger hierbleiben.“
Wir liefen so schnell wie möglich den Weg, den ich gekommen war, zurück. Erst auf dem Laufsteg wurden wir entdeckt.
„Pass auf! Da sind sie! Sie haben uns bemerkt! Wir müssen weg!“
Es kostete uns nur ein paar Sekunden, die Gangway hinunterzugelangen, doch dann blieb uns nichts weiter übrig, als den beiden Männern, die auf uns zustürzten, in entgegengesetzter Richtung davonzulaufen. Einer von ihnen wies in unsere Richtung und rief seinem Kumpel etwas zu. Wir beeilten uns wegzukommen, aber die einzige Richtung, die uns zur Auswahl blieb, endete am Ende des Kais, und Randi wusste, dass ich ein schlechter Schwimmer war.
Weiter aufs Land zu stand der alte Maschendrahtzaun, der um das ganze Kohlendepot herumlief, und Randi begann in diese Richtung zu laufen. Sie hatte ein Loch entdeckt, durch das wir uns sicher würden hindurchquetschen können.
„Beeil dich, Lasse!“
Wenigstens bediente sie sich keiner herablassenden Kommentare bezüglich meiner mangelhaften Fähigkeiten, schnell verschwinden zu können, aber ich hatte sie ja praktisch auch gerade gerettet. Sie konnte sehen, dass ich humpelte, und wenn sie den Geräuschen unten im Schiff gelauscht hatte, hatte sie wahrscheinlich auch schon erraten, dass es daher kam, weil ich an diesem Lenzabfluss gestolpert war.
Randi schaffte es durch den ramponierten Maschendrahtzaun und streckte die Hand aus, um mir ebenfalls hindurchzuhelfen. Unsere Verfolger waren mittlerweile so dicht hinter uns, dass ich hören konnte, wie sie sich in einer fremden Sprache etwas zuriefen, die mir unbekannt war.
Im letzten Augenblick gelang es Randi, mich durch das Loch zu zerren, und hätte sie nicht so kräftig gezogen, wäre ich dem Griff einer der beiden Männer, dem es gelungen war, mich an einem Hosenbein zu erwischen, nicht entkommen. Aber er war gezwungen, loszulassen, weil Randi so stark an mir zog und gleichzeitig mit einem Fuß nach seiner anderen Hand trat, die sich in den Maschen des Zauns festhielt.
Als ich freikam, taumelte ich vor und krachte direkt in einen Stapel alter Autoreifen, der über uns zusammenstürzte. Das brachte Randi auf eine Idee. Die Männer waren schon dabei, das Loch im Zaun zu vergrößern, damit auch sie hindurchpassten, doch Randi warf mehrere Türme der hoch aufgestapelten Autoreifen in Richtung des Zauns um. Schließlich mussten sie davon ablassen, uns auf diesem Weg zu folgen. Mit lautstarken Flüchen und Verwünschungen gaben sie auf.
Wir hatten eine Atempause bekommen, die wir so gut wie möglich nutzen mussten. Meine Strategie war klar.
„Jetzt ist es sicher an der Zeit, die Polizei zu unterrichten …“
„Warte! Es ist besser, wenn wir das später machen. Vielleicht können wir es vermeiden. Ich werde dir erklären, wieso, aber nicht gerade jetzt …“
„Der alte Zaun hat jede Menge Löcher. Wir haben die beiden jeden Augenblick wieder am Hacken!“
„Das weiß ich selbst. Vielleicht hast du recht. Also okay, ruf den Notruf an.“
Glücklicherweise bekam ich sofort eine Verbindung. Ich drehte mich zu Randi um, damit sie mir nähere Angaben dazu machte, wo wir uns befanden. Zum Glück konnte sie das, und die Polizei versprach, sofort einen Streifenwagen zu schicken.
„Sie können in zehn Minuten hier sein, wir müssen nur so lange durchhalten.“
Ich sah mich um.
„Was ist mit der Drehscheibe dort?“
Randi wies meinen Vorschlag nicht sofort zurück. Wir schlichen uns hinüber und hofften darauf, dabei nicht gesehen zu werden.
Bevor sich eine Menge Dreck und Gerümpel auf dem alten Lagerplatz angesammelt hatte, hatte es dort ein Netz aus Eisenbahngleisen für Kipploren gegeben, die kreuz und quer Kohle und Koks zu den Ladestationen fuhren und auf Lastenwagen abkippten, sodass die Kohlen nur ein einziges Mal angefasst zu werden brauchten. Ein alter, verrosteter Kran stand immer noch in einer Ecke des Platzes.
Randi ging auf den Vorschlag ein, umso mehr, als dass eine der Kipploren umgestoßen in der zylindrischen Vertiefung der Drehscheibe lag. Wenn wir unter sie krochen, saßen wir beinahe ganz im Verborgenen. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns unsere Verfolger dort entdeckten, wäre gering.
Wir konnten hören, wie die Männer auf dem Platz herumliefen und sich genervte Kommentare zuriefen. Glücklicherweise war der Platz überall mit Unmengen von Abfall übersät, sodass es schwer war, bis zu uns vorzudringen. Diese Erkenntnis begann den Männern aufzugehen und sie trug zu immer frustrierteren Ausbrüchen bei.
Dann hörten wir die Sirene des Polizeiautos und unsere Verfolger wurden nervös. Sie begriffen schnell, dass wir Alarm geschlagen hatten, doch wie viel wir würden erzählen können, konnten sie nicht wissen, deshalb versuchten sie sicherheitshalber, eilends zu verschwinden, solange noch Zeit war.
Sie liefen auf die gegenüberliegende Seite des Zauns, doch es dauerte seine Zeit, durch das Loch zu kommen, und die beiden Polizeibeamten erwischten sie dort und nahmen sie fest.
Ich hatte mir überlegt, dass wir uns auch zu erkennen geben sollten, da die Gefahr nun ausgestanden war, doch Randi griff genau in dem Moment meinen Arm, als ich mich anschickte, unter der Lore hervorzukriechen, um der Polizeistreife ein Zeichen zu geben.
„Warte, Lasse. Das ist nicht notwendig. Nicht gerade jetzt, jedenfalls. Wir können uns später immer noch an sie wenden. Es gibt da etwas, das ich vorher noch durchdenken muss …“
„Ja, aber die beiden Männer müssen doch wohl auch verantwortlich gemacht werden können … für irgendwas …?“
„Ja vielleicht, und die Polizei wird auch von ihnen wissen wollen, wer sie sind, deshalb werden sie sie auch erst mal festhalten. Sie sind nicht so wichtig, es sind kleine Fische.“
„Findest du nicht, dass ich es allmählich verdient habe, etwas mehr über das alles hier zu erfahren?“
Randi sah zu mir herüber, als ob die Frage gar nicht so wirklich einfach war. Sie dachte gründlich nach.
„Doch, das verdienst du schon, Lasse. Anders geht es wohl jetzt … nicht mehr …“
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