Kapitel 16
Pamfilius & Pollux - Rosas Baby

Besuch

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Ich war in meinem Bett im Krankenhaus wohl davon wach geworden, weil eine Krankenschwester neben mir stand und mich anschaute. Später sind sicher Vater und Mutter und auch einige andere da gewesen. Ganz klar war mir das nicht, denn ich hatte erfahren, dass ich eine Gehirnerschütterung hatte, aber zum Glück war es kein Schädelbruch. Und dann hatte ich überall noch blaue Flecke, doch Knochen waren nicht gebrochen.
Zweifellos hatte ich viel Glück gehabt. Einige Zweige fingen den Sturz ab, und ich war den Baum ja sehr hoch hinaufgeklettert. Es hätte leicht furchtbar ernst ausgehen können. Man konnte bei einem Sturz aus so einer großen Höhe schnell das Leben verlieren, wenn man unglücklich auftraf, aber der Boden war feucht und weich und das Gras hoch gewesen.
Ich döste ein und irgendwann war ich wieder der Meinung, dass ich das Gespenst sah, das auch draußen im Garten gewesen war. Eine ältere gebeugte Frau, wie es schien. Ihre Beine konnte ich jedoch nicht sehen. Sie war zuerst drüben in der Ecke des Zimmers, dann aber kam sie herüber und stand an meinem Bett. Doch nur einen Augenblick lang, dann verblasste sie und verschwand.
Ich musste einige Zeit geschlafen haben, denn als ich wieder wach wurde, war es draußen dunkel. Mir ging es viel besser, das war ein angenehmes Gefühl. Nie mehr wieder würde ich so hoch in Bäume klettern, die ich nicht kannte, und ich würde es auch nicht tun, wenn ich allein war. Man stelle sich nur mal vor, wenn es an einem Ort passiert wäre, wo mich niemand hätte finden können?
Ich dachte an das sumpfige Gelände, das hinter Mutters Garten lag. Es war ein altes Torfmoor, und es war gut zu erkennen, dass die Wasserlöcher einmal viereckig gewesen waren. Hier bin ich oft spazieren gegangen, und alle Bäume und Büsche wuchsen, wie sie wollten. Es war sehr spannend, dort herumzulaufen, auch wenn man nasse Socken riskierte. Wenn ich aber irgendwo auf einen Baum geklettert und heruntergefallen wäre und das Bewusstsein verloren hätte, hätte man mich sicher lange nicht finden können, und dann wäre es vielleicht zu spät gewesen.
Was war das jetzt? War das wieder ein Gespenst, das näher kam? Jedenfalls war es keine Krankenschwester. Dann konnte ich erkennen, wer es war.

„Pamfilius! Du hier?“
„Ja, ich dachte gerade, ich sollte dich mal wieder besuchen, Amalie, jetzt, wo ich in der Nähe bin.“
„Dann lass mich dir gleich sagen, Pamfilius, mich nimmst du nicht mit! No way! Ich bin auch dieses Mal nicht tot, dass du es nur weißt!“ Pamfilius hob abwehrend die Hände.
„Das weiß ich schon. Das hatte ich auch nicht vor. Aber es gibt da trotzdem etwas, dass sich bei dir wiederholt.“
„Das weiß ich auch, und dieses Mal ist es sogar meine eigene Schuld. Ich muss in Zukunft besser aufpassen.“
„Was ich meinte, war, dass es fast so wirkt, also ob du versuchst, deinen Vater zu retten, egal was kommt.“
„Was meinst du denn damit?“
„Ja, dein Vater war gerade dabei, einen neuen Unfall zu haben, der ihm, allem Anschein nach, das Leben gekostet hätte, und dann sind wir alle durch deine kleine Nummer, die alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, abgelenkt worden.“
„Ich verstehe kein Wort.“
„Das brauchst du auch nicht. Es wird außerdem das Beste sein, wenn du es gar nicht erst versuchst.“
„Jetzt habe ich aber schon angefangen, also denke ich, du bist mir eine Erklärung schuldig. Was meinst du damit, mein Vater war dabei, sein Leben durch einen Unfall zu verlieren?“
„Sein Gokart wäre in der Kurve über die Bahn hinausgeschossen und er wäre so unglücklich gefallen, dass er davon gestorben wäre.“
„Ein Gokart, come on! Da wäre es aber wahrscheinlicher, dass ich nach meinem Sturz tot gewesen wäre!”
„Genau. Aber so ist es nun einmal. Du bist immer noch nicht an der Reihe für eine Wiedergeburt, dein Vater hingegen ist es. Ich glaube nicht, dass er die nächsten Tage überleben wird.“
„Wie kannst du das wissen?“
„Weil ich gekommen bin, um seine Seele auf die andere Seite hinüberzuführen, und dieses Mal bekommt er keine Extrachance.“
„Du meinst, er hätte bei dem Verkehrsunfall im Auto umkommen sollen?“
„Ja, das war die Absicht. Es war nur wegen der schlechten Protonenbatterie, dass ich ihn nicht mit auf die andere Seite hinüberbekam.“
„Aber diese Sache hat sich doch erledigt, also kann doch da nichts mehr nachkommen?“
„Das hatte ich wirklich auch gehofft. Aber es hat sich gezeigt, dass der Große Weltenplan dadurch in Unordnung gekommen ist. Weil er etwas länger leben durfte, ist das jetzt die Ouvertüre zum ganz großen Kollaps.“
„Das kaufe ich dir nicht ab, Pamfilius! Du hast wie üblich deinen Laden nicht in Ordnung. Wie sollte der Unterschied, dass Vater leben durfte oder nicht, irgendeine Katastrophe irgendwo anrichten?“
„Es ist nicht einfach nur eine Katastrophe, mein Kind. Wir reden hier von dem ganz großen Zusammenbruch. So etwas, wie der Untergang der Welt. Nun ja, vielleicht nicht die Erde als Planet an sich, aber des menschlichen Lebens auf der Erde. Und das ist doch auch schlimm genug.“
„Ja, doch, das ist es selbstverständlich, das kann ich gut verstehen.“
„Ja, das solltest du wohl können. Und wenn es durch das Opfern eines einzelnen Menschen gerettet werden kann, dann wirst sogar du einsehen können, dass es notwendig ist, auch wenn diese Person zufälligerweise dein Vater ist.“
„Aber ganz ehrlich, Pamfilius, Vater hat doch wirklich nichts Schlimmes getan. Das muss doch ein Versehen oder eine Überreaktion sein.“ Pamfilius schüttelte den Kopf.
„Wenn es sich um die alte Technik handeln würde, würdest du mich dazu bringen können, daran zu zweifeln, denn die hatte ganz klar ihre Beschränkungen, aber jetzt haben wir neue Technologien eingeführt, und die sind sehr viel empfindlicher. Sie können die kleinen Details aufdecken, die zu umfassenden Unglücken führen können. Und hiermit meine ich nicht nur irgendwelche Unglücksfälle, sondern auch solche, denen wir unbedingt entgehen müssen.“
„Ich will trotzdem gern einen Beweis für diese Vorgehensweise sehen, Pamfilius. Auch wenn du offenbar von den Möglichkeiten der neuen Technik ganz hingerissen bist, weiß ich doch gut, dass sie keine Garantie dafür ist, Fehlern zu entgehen. Wir haben hier auf der Erde praktisch seit vielen Jahren neue Technik, und die ist auch nicht unfehlbar.“

Pamfilius musste sich mit dieser Bemerkung erst einmal auseinandersetzen. Dann zog er eine kleine Box aus der Brusttasche seines Overalls.

„Hier ist ein Ereignisplotter. Das ist ein neues Gerät, mit dem wir Schutzgeister im Dienste der Seelenbegleitung jetzt ausgerüstet wurden.“

Ich starrte auf seine Box. Sie ähnelte einem Mobiltelefon.

„Darf ich den sehen?“
„Das ist eigentlich nichts, was wir üblicherweise gewöhnlichen Sterblichen zeigen.“
„Komm schon, ich mache es ja nicht kaputt.“

Pamfilius reichte mir zögernd seinen kleinen Apparat. Ich drehte etwas an der Box herum, sodass das rechteckige Fenster in die Waagerechte kam.

„Sieh nur, im Display ändert sich die Anzeige. Das ist aber hipp. Möchte nur wissen, ob das Betriebssystem auch Android ist.“
„Jetzt mach aber wirklich nichts kaputt. Das sind empfindliche Geräte und ich bekomme den Schwanz voll, wenn ich nicht gut darauf aufpasse. Das kostet ein Heidengeld.“
„Entspann dich, ich weiß, was tue. So was benutze ich jeden Tag. Kann das auch simsen?“
„Ich weiß wirklich nicht, ob es das kann, was du sagst. Gib es mir wieder.“
„Schade, dann könnten wir schnell im Hauptquartier nachfragen. Was ist das hier?“ Ich zeigte ihm den roten Punkt und das Mäusekino.
„Ja, der rote Punkt ist ein Alarmknopf. Es bedeutet, dass Gefahr droht. Er ist momentan auf deinen Vater eingestellt. Er wird wahrscheinlich verschwinden, wenn er weg ist.“
„Wahrscheinlich?“
„Ja, dann ist er ja keine Gefahr mehr für jemanden oder etwas. Was machst du denn jetzt?“ Ich klickte eine Reihe von Optionen an.
„Ich gehe in das Informationsmenü.“
„Und wozu soll das gut sein?“
„Wir müssen etwas mehr Details über den Neunschwänzigen erfahren.“
„Was meinst du?“
„Wir müssen doch wissen, ob es sich bei der Gefahr, die Vater bedeutet, um etwas handelt, das er schon getan hat oder das er erst in der Zukunft tun wird. Ich meine, bevor alles richtig schiefgeht.“
„Wenn wir ihn eliminieren, wird es wahrscheinlich das Sicherste sein.“
„Überhaupt nicht. Vielleicht ist es überflüssig. Ja, sieh nur mal hier!“ Pamfilius wirkte nervös.
„Was machst du jetzt?“ Ich war in die Untermenüs gegangen.
„Sie mal da. Der Kurs in Richtung Abgrund ist längst eingeschlagen. Es tut überhaupt nichts zur Sache, ob Vater jetzt verschwindet, oder nicht.“
„Was hast du da zu laufen?“
„Ich sehe mir die Schicksalskurve an, ohne Vaters Existenz. Es hilft nicht einen Deut.“
„Ja, aber was nun?“
„Ja, egal, was er getan haben soll, es ist längst passiert und läuft jetzt auf seiner eigenen Entwicklungsschiene, gleichgültig, was Vater nun in der Zukunft tut oder nicht tut.“
„Zum Teufel noch eins.“ Ich reichte ihm die Box zurück.
„Du solltest zusehen, dass du dich auf den neuesten Stand der neuen Technik bringst, mein guter Pamfilius.“
„Hm. Es war ja hauptsächlich Major Klamuffel, der zu den Waffen gerufen hat. Und ich habe darauf gezählt, dass er wusste, wovon er spricht. Ich meine, er gehört ja zu den Oberbefehlshabern, denen man besser glaubt und denen man zu gehorchen hat.“
„Das ist ja wieder typisch. Nur weil er ein paar Streifen mehr hat als du, darf er mit dem Leben der Leute schalten und walten, wie er will. Und das, obwohl er es besser wissen sollte.“
„Ja, aber das alles ist doch auch so neu, auch für ihn. Ich meine die neue digitale Technik und all das.“
„Das ist wirklich keine Entschuldigung. Die Sache wird dadurch nur peinlicher, dass weitere Informationen eigentlich zugänglich sind, aber die Führung es einfach nicht versteht, sie verwaltungstechnisch anzuwenden. Ein Skandal ist das, wenn du mich fragst.“

Ich konnte Pamfilius schon ansehen, dass es ihm mit meiner Analyse nicht gut ging.

„Ja aber, ich kann doch auch nicht unverrichteter Dinge zurückkehren. Das möchte ich nur sehr ungern.“
Pamfilius sah wirklich sehr mitgenommen aus. Und, wie früher schon, tat mir der arme blaue Drache etwas leid, der wieder einmal tief in der Klemme steckte.
„Lass mich noch mal dein Smartphone haben.“
„Das ist ein Ereignisplotter. Bitte.“
„Lass uns mal sehen. Vielleicht können wir ihm weitere Details entlocken. Hm ...“

Ich ging tiefer in die Menüs. Es musste doch eine Stelle geben, an der man Zugang zu weiteren Details bekam. Eine kommende weltumspannende Katastrophe musste doch schon Spuren in der Berechnungsgrundlage hinterlassen haben.

„Wir können nach weiteren Informationen auf Level 6b auf Limbus suchen.“
„Ich glaube schon, ich weiß, wo das ist.“
„War da nicht was mit einer Raumstation, auf der eine interstellare Konferenz abgehalten wurde? Irgendwas mit einer universellen Synode auf Gottesebene?“
„Ja, das auch, aber Limbus ist außerdem der Name der Zwischenebene zwischen Himmel und Erde, auf der die Seelen manchmal umgehen und sich verirren.“
„Nun ja, wir sind wohl schon dort gewesen. War das nicht der Ort, wo du deinen alten Schulkameraden wieder gefunden hast?“
„Ja, das war Limbus. Aber das war nur ein kleinerer Teil des Komplexes. Level 6b befindet sich dort. Der Teil von Limbus ist aber auch nicht neu justiert worden, deshalb kann ich gut verstehen, wenn der Plotter nicht genau anzeigt, was dort vor sich geht.“
„Hm. Dann müssen wir wohl selbst nachsehen.“
„Tja, da bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“
„Dann begeben wir uns abermals auf eine Mission.“
Pamfilius seufzte.
„Ich bin dir dankbar dafür, dass du mir dabei hilfst, das hier in Griff zu bekommen, Amalie, aber willst du nicht besser damit aufhören, mich für die Dinge zu verhöhnen, die ich nicht beherrsche?“
„Okay, ich hör schon auf. Es ist ja auch nicht deine Schuld, wenn sie dich auf eine Mission schicken, für die du noch keinen Abschluss hast.“

Ich schob die Füße aus dem Bett und stand auf, um nach meinen Kleidern zu suchen.

„Major Klamuffel war auch bereit einen anderen zu schicken, aber er hat mich selbst entscheiden lassen. Er hat jedoch deutlich zu erkennen gegeben, dass es die Ehre des Korps erfordere, dass ich die Sache selbst regele. Immerhin ist der Fehler ja passiert, als ich die Vertretung auf dem Posten des Schutzgeistes war.“
„Ja, so ist das mit diesen pyramidenförmigen Hierarchiestrukturen. Aus Ehrbegriffen und Stolz werden unzählige Irrtümer gemacht. Das wird auch nicht besser werden, ehe nicht eine flachere Führungsstruktur einführt wird.“
„Aber kannst du die Reise nach Limbus überhaupt schaffen, Amalie? Als Seele kann man das, aber deine Seele ist nicht freigegeben, sondern noch immer mit deiner irdischen Hülle verbunden?“
„Wie du dich erinnern kannst, lief es beim letzten Mal sehr gut und da war ich ja auch nicht tot.“
„Du hast recht. Dann geht es wahrscheinlich auch dieses Mal.“

Wir schlichen auf den Gang hinaus und an dem Raum, in dem sich die Nachtschwestern aufhielten, vorbei. Sie sahen sich im Spätprogramm einen alten Schwarz-Weiß-Film mit dem Namen „Cabin in the Sky“ an. Ich hatte auch gesehen, dass er im Fernsehen lief, und wollte ihn auch selbst gern ansehen, denn er handelte von Himmel und Erde, von der Hölle und allen Engeln, aber Vater hatte bestimmt den Rekorder programmiert. Er hatte überhaupt eine Schwäche für alte Klassiker aus den Kindertagen des Films, deshalb kümmerte er sich immer darum, sie sich aufzunehmen, um sie sich dann bei späterer Gelegenheit anzusehen.

„Wir nehmen die Treppe in den Keller, Amalie. Ich benutze ungern die irdische Technik.“
„Sie können dich doch aber nicht sehen.“
„Nein, aber wenn sie dich entdecken, ist das auch schlimm genug. Du hast keine Erlaubnis dafür bekommen, dein Bett zu verlassen.“
„Ich habe ihnen einen Zettel hingelegt, dass ich bald wieder da bin.“
„Das wird sie nicht kümmern. Sie werden Himmel und Erde in Bewegung setzen, um dich zu finden.“
„Es werden wohl eher wir sein, die Himmel und Erde in Bewegung bringen.“
„Du weißt genau, was ich meine, Amalie.“

Wir kamen in den Keller und liefen durch das System aus alten Gängen und Fluren.

„Gibt es auf dem Plotter auch eine Liste der Dimensionsportale?“

Pamfilius hatte mich die Box bedienen lassen. Er hatte eingesehen, dass ich besser darin war, mich auf der umfangreichen Benutzeroberfläche zu orientieren.

„Du meinst eine Art Karte, die die Durchgänge zu den Ebenen auf Limbus zeigt?“
„Ja, so was Ähnliches.“
„Das weiß ich nicht genau.“
„Dann lasse ich mal eine Suche laufen.“

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